Kategorie: Titien

  • Leben in vollen Zügen (und Flugzeugen) so lange es geht

    Leben in vollen Zügen (und Flugzeugen) so lange es geht

    2018 hinterlassen wir einen CO2-Abdruck, der jeder Klimaaktivistin die Zornesröte ins Gesicht steigen lassen müsste. Titien geht es so gut, dass wir viel verreisen können. Anfangs ist unsere Onkologin skeptisch, als wir ihr von geplanten Fahrten nach Dänemark, Spanien und in die Schweiz erzählen.

    Sie gewöhnt sich aber daran, dass wir unsere Termine in der Klinik mit unseren Reisen abstimmen müssen. Wir fliegen nach Rom zum Hochzeitstag. Fliegen zwei, drei Mal nach Barcelona, fahren nach Florenz und besuchen Freunde in Köln, Berlin, München und Stuttgart.

    Wir fahren Tretboot auf dem Titisee. Wir gehen in Kunstmuseen und auf Konzerte von Tocotronic und Calexico. Ich laufe im Sommer meinen ersten Halbmarathon – den NCT-Lauf gegen Krebs.

    Beim NCT-Lauf gegen Krebs (vor dem Lauf) mit #teamschnipsflausch

    Unsere Onkologin muss trotzdem schlucken, als wir ihr von unseren Sommerreiseplänen erzählen. Von Karlsruhe nach Frankfurt. Von Frankfurt nach Hongkong, von dort nach Shenzen. Nach ein paar Tagen weiter nach Macau, zurück nach Shenzhen, und dann nach Beijing. Von dort wieder zurück nach Hause.

    Wir packen die Chemotabletten und das Kortison für Notfälle ein und begeben uns auf Titiens spuren. Sie hat ja in Shenzhen studiert und lange in Beijing gelebt. Wir verbringen Zeit mit ihrer Familie, die aus Jakarta anreist und lernen Yuna kennen, ihre zweijährige Nichte.

    Wir treffen Freunde und Bekannte und haben ein volles Besichtigungsprogramm, inklusive Chinesischer Mauer. Wer gerne die Urlaubsbilder sehen möchte, sei auf die Artikel in Titiens Blog verwiesen (Teil I, Teil II).

    Titiens Symptome sind stabil. Sie sieht Doppelbilder und spürt ständig linksseitig ein Kribbeln, als wäre ihr Arm eingeschlafen. Erst im November merkt sie Veränderungen. Sie spricht etwas undeutlicher und sie hat den Eindruck, dass ihr im rechten Arm Kraft fehlen würde.

    Wir haben Anfang Dezember einen Termin für ein MRT.

  • Wer ist Titien – ein Steckbrief

    Wer ist Titien – ein Steckbrief

    Titien wird 1981 in Jakarta geboren. Sie ist Indonesierin, gehört aber der chinesischen Minderheit im Land an, die gut ein Prozent der Gesamtbevölkerung Indonesiens ausmacht.

    Während der Asienkrise 1997-1998 brechen in Indonesien die Mai-Unruhen aus, die sich gegen die Chinesische Minderheit richten. Ihr Vater verschifft Titien mit 16 Jahren zusammen mit ihrem jüngeren Bruder nach Shenzhen, China.

    Titien soll nach einem Chinesisch-Intensivkurs anfangen zu studieren, vermasselt aber den Eingangstest zur Uni. Sie besteht darauf, ihr Studium trotzdem anfangen zu dürfen. Sie verhandelt mit dem Dekan ihrer Fakultät, dass sie zur Probe studieren darf und falls sie die Prüfungen am Ende des ersten Semesters schafft, darf sie bleiben.

    Sie gehört nach dem Semester mit zu den besten des Jahrgangs und schließt nach vier Jahren ihr Studium der Internationalen Ökonomie ab. Es bleibt ihr Geheimnis, dass sie durch den Umzug mit 16 nie die Schule abgeschlossen hat.

    Titien arbeitet für ein chinesisches Handelsunternehmen für anderthalb Jahre, bevor sie entscheidet, dass sie gerne in die Hauptstadt Beijing ziehen möchte.

    Die indonesische Vertretung dort wird 2006 mit einem neuen Botschafter besetzt und Titien bewirbt sich auf eine Stelle als Übersetzerin. Sie wird ein paar Tage später zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen.

    Titien reist nach Beijing mit leichtem Handgepäck, hat ihr Bewerbungsgespräch und ihr wird auf der Stelle ein Arbeitsvertrag angeboten. Sie soll schon am nächsten Tag mit dem Botschafter auf erste Termine fahren. Titien ruft in Shenzhen an, ihr Vater schickt ihr die wichtigsten Unterlagen und Kleidung.

    Titien bereist während ihrer Zeit in der Botschaft alle chinesischen Provinzen, von der Inneren Mongolei bis Tibet, von Guangdon nach Xinjiang. Sie wird als Übersetzerin für gr0ße Anlässe eingesetzt. Sie betreut die First Ladies während internationaler Konferenzen.

    Titien zwischen Xi Jinping und Susilo Bambang Yudhoyono. Jakarta Post, 2013.

    Sie übersetzt als letzte Person im Raum bei Verhandlungen zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem ehemaligen indonesischen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono.

    Sie dient auch unter dem aktuellen Präsidenten Jokowi. Einer ihrer größten Erfolge ist ihre Beteiligung am Handelsabkommen zwischen Indonesien und China über den Import von Vogelnestern. Einer wertvollen Suppenzutat in China.

    2015 hat sie genug von Beijing und entscheidet sich nach Deutschland zu ziehen. Wegen der guten Luft, wie sie mir sagt, als wir uns ins Stuttgart kennen lernen.

  • Titiens Therapie: Die erste Verteidigungslinie bricht

    Titiens Therapie: Die erste Verteidigungslinie bricht

    Titiens Tumor kann nicht operiert werden und ihre Krankheit ist nicht heilbar. Dennoch gibt es therapeutische Möglichkeiten, ihr Leben zu verlängern.

    Direkt nachdem die Biopsie unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt hatte, ging es in Karlsruhe mit Strahlentherapie los. Sobald Titien wieder schlucken konnte, kam die Chemotherapie mit Temozolomid hinzu.

    Auch nachdem sie die Strahlenbehandlung abgebrochen hatte und aus dem Krankenhaus entlassen wurde, geht die Behandlung mit Temozolomid weiter. Fünf Tage lang jeden morgen eine Tablette, dann drei Wochen Ruhe. Dann wieder fünf Tage lang Temodal. Morgens vor Einnahme der Temodal-Tabletten nimmt sie Granisetron, um eventuelle Übelkeit zu unterdrücken. Sie hat fast keine Nebenwirkungen der Medikamente.

    Fast jede Woche gehe ich mit ihr zum Hautarzt zum Blut abnehmen. Ich kann nicht hinsehen, wenn ihr die Kanüle in eine Armvene gestochen wird. Sie schlägt sich tapfer, auch wenn es manchmal eines zweiten Versuchs bedarf, bis die Vene gefunden ist.

    Ihr Blutbild wird immer auch an unsere Onkologin ins Klinikum gefaxt. Vor allem die Leukozyten, ihre weißen Blutkörperchen, die Zellen des Immunsystems, bewegen sich am unteren Rand des Referenzbereichs. Vier bis zehn Zellen pro Nanoliter Blut sind normal, ihre Leukozyten sind bei kurz über drei.

    Im November, vier Monate nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wird kontrolliert, was ihr Tumor im Hirnstamm macht. Ihr wird dazu ein Kontrastmittel gespritzt und von ihrem Kopf werden MRT-Schnittbilder erstellt.

    Ein Vergleich der Intensität des aufgenommenen Kontrastmittels mit Aufnahmen vom Sommer legt leider nahe, dass der Tumor weiter wächst.

    MRT Aufnahme mit Kontrastmittel. Querschnitt von Titiens Kopf. Rot umrandet das diffuse Gliom in der Pons. Rechts daneben das Kleinhirn. Darunter beginnt das Rückenmark.

    Wir wechseln die Therapie. Titien bekommt CCNU (Lomustin) als Kapsel zum schlucken. CCNU, beziehungsweise dessen reaktive Metabolite, passieren gut die Blut-Hirn-Schranke. CCNU alkyliert die DNA und wirkt so zytostatisch, verhindert also, dass die Zellen sich weiter teilen. Die DNA der Tumorzellen wird verändert und kann nicht mehr abgelesen werden.

    Titien schluckt einmal alle vier Wochen CCNU. In den ersten zwei Monaten bekommt sie zur Mitte des Zyklus noch Procarbazin, ebenfalls ein Alkylans.

    Wir lassen weiter wöchentlich ihre Blutwerte kontrollieren und sind alle vier bis sechs Wochen bei unserer Onkologin in der Klinik. Die Leukozyten sind weiter sehr niedrig. Zwei mal müssen wir deshalb den Start der CCNU-Therapie verschieben. Sie wird dann mit Neulasta geboostet und wir fangen eine oder zwei Wochen später an.

    Anfangs erhält Titien noch drei Tabletten CCNU. Im Laufe der Therapie wir aus Sorge um ihre Leukozyten die Dosis reduziert.

    Der Tumor bleibt fast ein Jahr lang stabil, auch wenn sie nur noch eine Tablette mit 40 mg CCNU pro Zyklus Chemotherapie bekommt.

  • Glaube, Liebe, DIPG

    Glaube, Liebe, DIPG

    Titien geht es langsam besser. Dinge des täglichen Lebens werden zurück erobert. Ich schiebe sie mit dem Rollstuhl durch den Regen in die Stadt. Wir schaffen es, zusammen mit Rollator einkaufen zu gehen. Wir gehen zu Fuß in einen Biergarten.

    Wir machen einen Ausflug nach Heidelberg, fahren nach Straßburg und fliegen für ein paar Tage in meine alte Heimat, Barcelona. Drei Monate sind vergangen, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

    Ich lebe, ich weiss nicht wie lang,
    Ich sterbe, ich weiss nicht wann,
    Ich fahre, ich weiss nicht wohin,
    Mich wundert, dass ich so fröhlich bin

    Aus: Glaube Liebe Hoffnung von Ödön von Horváth. Originalquelle unbekannt.

    Wie schafft man es als todkranke Person und als deren Ehemann den Alltag zu bewältigen? Das eine Extrem ist, jeden Tag zu leben als wäre es der letzte. Das andere Extrem ist, die Krankheit zu ignorieren und so weiter zu machen, als wenn nichts wäre.

    Mein dritter Weg ist pragmatisch, reflektiert. Ich nehme unsere gemeinsame Zeit sehr viel bewusster war. Alles bekommt eine Bedeutung.

    Ihr dritter Weg ist spirituell. Sie liest in der Bibel und schreibt über ihren Glauben. Sie betet vor dem einschlafen mit mir.

    Wir sagen uns oft, dass wir uns lieben. Manchmal fühlt es sich an, als hätten wir etwas gefunden, dass vielen anderen für immer vorenthalten bleibt. Ein Gefühl des gemeinsamen angekommen seins.

    Manchmal weinen wir auch einfach nur miteinander.

  • Alternativmedizin tötet Krebspatienten

    Alternativmedizin tötet Krebspatienten

    Als Angehöriger einer Krebspatientin ist eines unvermeidbar: Einem werden von vielen Seiten oft gut gemeinte „alternative“ Therapiemöglichkeiten vorgeschlagen.

    Kurkuma, Canabisöl, Hemohim, Reservatrol, Methadon, intra-arterielle Chemotherpaie, Bruno Gröning und so weiter. Da ist viel hanebüchenes Zeug dabei, man glaubt es erst, wenn man es selbst hört und liest.

    Die gut gemeinten Ratschläge lassen sich in drei Katergorien einordnen. Da sind erstens die Diät-Tips, zweitens die medikamentösen Alternativtherapien und drittens die – nennen wir sie mal – „spirituellen“ Vorschläge zur Heilung.

    Vielleicht schreibe ich zu einigen der vorgeschlagenen Alternativen irgendwann noch mal mehr. Ich antworte jedenfalls auf die Vorschläge die uns erreichen damit, dass wir uns entschieden haben, den Weg zu gehen, der erwiesernmaßen lebensverlängernd wirkt: Den der Medizin.

    Es ist gar nicht so leicht zu beantworten, um wie viel Jahre die Medizin eigentlich das Leben Krebskranker verlängert. Zum einen müssen unterschiedliche Krebsarten unterschieden werden, zum andern spielen neben dem medizinischen Fortschritt noch Faktoren wie eine bessere Krebsvorsorge und Früherkennung eine Rolle.

    Was man jedoch sicher sagen kann ist: Alternativemedizin tötet. Auch zusätzlich zur konventionellen Krebstherapie, also der ganzen oder teilweisen operativen Entfernung vom Tumoren, der Strahlentherapie und der Chemotherapie, wirkt Alternativmedizin nicht. Wer mehr Beispiele braucht sei an das Blog Science Based Medicine verwiesen.

    Hier habe ich nur eine Abbildung aus einem Paper vom Januar 2018 eingebunden. Die Abbildung zeigt den Anteil der überlebenden Krebspatienten und Patientinnen über einen Zeitraum von 7 Jahren nach ihrer Diagnose. Die Patienten hatten die häufigsten Krebsarten, also Lungenkrebs, Brustkrebs, Darmkrebs und Prostatakrebs.

    Die gestrichelte Linie zeigt die Patienten, die sich auf konventionelle Therapiemethoden verlassen haben. Die durchgezogene Linie zeigt Patienten, die sich statt der konventionellen Therapie auf alternativmedizinische Methoden verlasen habe.

    Nach sechs Jahren war die Hälfte der Alternativmedizinpatienten tot. Drei Viertel der Patienten mit konventioneller Therapie war noch am Leben.

    Wahrscheinlich renne ich mit diesem Artikel bei den meisten meiner Leserinnen und Leser offene Türen ein. Ich finde einen anderen Aspekt der „alternativen“ Therapien diskussionswürdig:

    Mir fällt es als promoviertem Molekularbiologen und Proteinbiochemiker relativ einfach, den uns vorgeschlagenen alternativen Therapien argumentativ zu begegnen. Ich habe das Gefühl, ich erspare Titien dadurch seit der Diagnose und während ihrer Therapie eine Menge Unsicherheit und Zweifel.

    Wie geht es wohl Patienten, die nicht in der Lage sind, medizinische gesichertes Wissen von alternativem Humbug zu unterscheiden? Die nicht wissen, ob sie ihrer Onkologin oder dem Freundeskreis oder der Webseite, die sie selbst auf Facebook „recherchiert“ haben trauen können?

    Sich bei der Wahl der Therapie sicher zu fühlen trägt auch zur Lebensqualität Krebskranker bei.

  • Entlassen aus dem Krankenhaus und wieder zu Hause

    Entlassen aus dem Krankenhaus und wieder zu Hause

    Jeden Morgen fahre ich auf dem Weg zum Büro den Umweg übers Klinikum. Das Fahrrad schließe ich an den selben Baum wie immer an. Ich gehe durch den Seiteneingang rein, grüße die rauchenden Krebspatienten vor der Türe und die Schwestern auf dem Gang.

    Dann verbringe ich eine Stunde mit Titien. Ihr Blutdruck wird gemessen. Sie bekommt Frühstück und Medikamente. Ich fahre sie im Rollstuhl zur Strahlentherapie und bringe sie dann wieder in ihr Zimmer. Bleibe bei ihr, bis ich von ihren Eltern abgelöst werde.

    Jeden Abend nach der Arbeit fahre ich wieder zu ihr. Ich schiebe sie spazieren im Rollstuhl oder sie geht langsam neben mir her mit dem Rollator. Je nach dem, wie sie sich fühlt. An ihrem besten Tag können wir sogar eine Runde um die Klinik drehen. Bestimmt ein Kilometer.

    Dann kommen die Nebenwirkungen der Strahlenbehandlung, der Chemotherapie und des Kortisons. Sie wird wieder schwächer. Irgendwann geht es nicht mehr. Sie bricht die Strahlentherapie zwei Tage vor deren Ende ab.

    Wir werden aus der Klinik entlassen. Es ist Hochsommer und Titien friert. Sie liegt zu Hause im Bett im Jogginganzug, dick eingepackt unter zwei Bettdecken. Die Bestrahlungen haben offenbar die Region im Stammhirn beeinträchtig, die für die Temperaturkontrolle zuständig ist.

    Rollator und Rollstuhl sind schon organisiert. Wir brauchen noch einen Duschlifter. Sie ist zu schwach, um alleine aus der Wanne zu steigen und sich im stehen zu duschen. Ich unterlege die Beine unseres Sofas im Wohnzimmer mit weißen Porenbetonsteinen. Nur so kann sie alleine wieder aufstehen.

    Wir bekommen viel Besuch. Kayan aus Hong Kong. Ashley aus Singapur, Ulf und Anna aus Chile, Tita und Chris aus Norwegen, und viele Freunde aus Deutschland. Titiens Eltern fliegen nach zwei Monaten in Deutschland wieder nach Jakarta.

    Wir sind wieder zu Hause.

  • Titiens erste Therapie: Bestrahlen, Temozolomid, Dexamethason

    Titiens erste Therapie: Bestrahlen, Temozolomid, Dexamethason

    Die Stammhirnbiopsie führte zum Anschwellen des Gehirns. Dem wurde mit der Gabe von Dexamethason begegnet. Dexamethason ist ein Cortisonderivat, das oral eingenommen wird und die Blut-Hirn-Schranke gut überwindet.

    Titiens Speichelfluss musste nach der Operation unterdrückt werden, da sie nicht mehr schlucken konnte. Hierfür wurden Scopolamin-Pflaster jeweils hinter den Ohren, also über den Speicheldrüsen angebracht.

    Direkt am Tag nach der Aufnahme im Krankenhaus in Karlsruhe soll ihre Strahlentherapie beginnen. Geplant sind 30 Zyklen mit jeweils 1,8 Gray Dosis. Jeden Werktag. Zuerst findet ein Planungs-CT statt, dann wird eine Maske aus einem selbstaushärtenden Kunststoffnetz hergestellt, die ihren Kopf während der Bestrahlung in Position hält.

    Titien mit Maske vor der Bestrahlung.

    Die Strahlen zerstören die DNA in den Zellen. Idealerweise werden fast nur Tumorzellen getroffen und das gesunde Gewebe wird bis auf einen Sicherheitssaum verschont. Bei der ersten Bestrahlung muss sich Titien übergeben. Nicht aufgrund der Strahlenbelastung, sondern aus Angst.

    Nachdem Sie wieder schlucken gelernt hat, fängt parallel zu den Bestrahlungen die erste Chemotherapie an. Sie bekommt Temozolomid in Tablettenform. Fünf Tage lang, dann drei Wochen Pause. Dann wieder fünf Tage Temozolomid.

    Temozolomid hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber vielen anderen Chemotherapeutika: Es überwindet die Blut-Hirn-Schranke, gelangt also dahin wo es wirken soll. Temozolomid methyliert die DNA und führt so zu Fehlern in der Replikation sich aktiv teilender (Tumor)-zellen, die in der Folge absterben.

    Diese Kombinationstherapie aus Bestrahlungen und Temozolomid ist seit gut zehn Jahren der Standard bei Glioblastomen. Es gibt einige neuere therapeutische Ansätze zur Behandlung. Darum soll es in einem anderen Artikel gehen.

    Parallel schluckt sie weiter Dexamethason. Hochdosiert. Bis zu 20 mg pro Tag. Die Folgen sind Wassereinlagerungen in Gesicht und Körper. Sie entwickelt ein veritables Cushing-Syndrom.

    Das Gesicht wird runder dank hochdosiertem Kortison.
  • Es geht aufwärts mit Titien

    Es geht aufwärts mit Titien

    Titien ist auf der radioonkologischen Station des städtischen Klinikums Karlsruhe angekommen. Die Ärztinnen und Schwestern nehmen sich Zeit und kümmern sich mit viel Einfühlungsvermögen um sie. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht zur neurochirurgischen Station in dem Krankenhaus in dem die Biopsie durchgeführt wurde.

    Am meisten stört Titien ihre Magensonde. Sie kann nach der Hirnstamm-Biopsie noch nicht schlucken, muss also weiter durch die Nase ernährt werden. Die Ärztinnen bieten ihr an, eine PEG-Sonde durch die Bauchdecke zu legen. Sie nimmt dankend an. Endlich ist der störende Schlauch aus dem Gesicht!

    Es ist Anfang Juni und sie setzt sich ein Ziel: Sie möchte an ihrem Geburtstag am 24. Juni zu Hause auf dem Balkon sitzen, Tee trinken, und eine Nussschnecke von ihrem Lieblingsbäcker essen.

    Titien erholt sich weiter von der Biopsie. Sie ist nicht mehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sondern geht mit dem Rollator den Flur der Station entlang. Auf- und Abwärts, so lange es geht. Sie darf am Wochenende sogar nach Hause. Mit Rollstuhl, Medikamenten und Flüssignahrung.

    Titien macht Fortschritte beim Schlucken. Erst geht Götterspeise, dann Kartoffelbrei, Spinat und Rührei. Dann eingedicktes Wasser, Müsli, Toastbrot und Eiscreme.

    Unserer Spaziergänge werden ausgedehnter, wir erkunden das Klinikgelände. Sie dreht Runden mit mir und mit ihren Eltern, die seit gut vier Wochen aus Jakarta hier sind.

    Wir gehen am Wochenende chinesisch Essen. Ihr kommen die Tränen, als sie merkt, dass sie wieder im Stande ist, normales Essen zu sich zu nehmen.

    Ihr Geburtstag ist eine Woche später. Wir sitzen zu Hause auf dem Balkon, trinken Tee und essen Nussschnecken.

  • Songs of Praise and Worship

    Songs of Praise and Worship

    Titien heute morgen um halb acht:
    Oh, ich kann nicht schlafen. Ich liege seit vier Uhr wach.

    Ich: Über was hast du nachgedacht in der Zeit?

    Sie: Über nichts. Mein Kopf hat gesungen.

    Ich: Dein Kopf hat gesungen? Was denn?

    Sie: Songs of Praise and Worship.

    In diesem Sinne. Schönen Sonntag.

  • Titiens Lebenserwartung mit H3.3_K27M-Mutation

    Titiens Lebenserwartung mit H3.3_K27M-Mutation

    Gliazellen tragen zu etwa der Hälfte der Masse des Gehirns bei. Sie geben Struktur, isolieren die Nervenzellen, bilden die Blut-Hirn-Schranke, und sorgen dafür, dass die Nervenzellen mit Nährstoffen versorgt werden.

    Wenn Gliazellen sich unkontrolliert teilen, entsteht ein Gliom. Titiens Gliom sitzt im Hirnstamm, genauer in der Pons. Die morphologische Charakterisierung des bei der Biopsie entnommenen Gewebes ergab, dass die Tumozellen eine fibriläre Matrix bilden. Titien hat ein diffuses intrinsisches pontines Gliom (DIPG).

    Die in der Biopsie entnommen Zellen wurden noch weiter untersucht. Man fand eine Mutation des Histonproteins H3.3. Die Aminosäure Lysin (K) an Position 27 ist zu einem Methionin (M) mutiert: H3.3_K27M.

    Paarweises Alignment der Aminosäuresequenz vom Histonprotein H3.3. Oben normal. Unten Titien. Rot umrandet ist die Stelle der Mutation

    Alle Tumore haben gemeinsam, dass sich die betroffenen Tumorzellen unreguliert teilen. Entweder eine Zellysklusbremse ist ausgefallen oder ein Faktor, der die Zellteilung anregt. Histone sind Proteinkomplexe, die für die dichte Packung und die Organisation der DNA verantwortlich sind. Dicht gepackte DNA wird nicht abgelesen.

    Man vermutet, dass die K27M Mutation im Histonprotein H3.3 bei Titien die Teilung der betroffenen Zellen fördert. Es könnten auch weitere Proteine an der Entstehung des Tumors beteiligt sein. Insgesamt ist der Einfluss der Histonvarianten (es gibt alleine sieben H3-Varianten im Menschen) und deren Mutationen bei Krebs noch schlecht verstanden.

    Es ist äußerst ungewöhnlich, dass ein diffuses intrinsisches pontines Gliom (DIPG) bei Frauen Mitte dreißig diagnostiziert wird. Am häufigsten tritt die Krankheit bei Kindern auf.

    Die durchschnittliche Lebenserwartung bei den mit DIPG diagnostizierten Kindern mit H3.3_K27M-Mutation ist 9 Monate. Erwachsene Patienten leben länger. Nach Aussage unserer Ärzte etwa zwei Jahre.

    Kaplan-Meier Plot der Überlebensdauer von Kindern mit DIPG. Hellgrün: Die Mutation in Histon H3.3, die Titien hat. Dunkelgrün: Die selbe Mutation in H3.1, einer Isoform des Histonproteins H3. Abbildung aus: Castel et al. Acta Neuropathol (2015).