Schlagwort: Sterben

  • Titiens Begräbnis

    Titiens Begräbnis

    Gestern war Titiens Beerdigung. Mir fehlen die Adjektive, um den Tag zu beschreiben.

    Titien wurde unter einer Buche in einem Wald neben meinen Eltern in meiner alten Heimat bestattet. Mein Bruder Tilman hat mich von Karlsruhe nach Obersulm gefahren. Christian, mein bester Freund aus Grundschul- und Gymnasiumszeiten, ist evangelischer Pfarrer. Er hat das Begräbnis geleitet. Titiens beste Freundin Kayan hat auch gesprochen. Sarah und Frank haben das Begräbnis mit Geige und Akkordeon begleitet. Es war eine Zeremonie mit Familie und engen Freunden. Ich habe Titiens Urne vom Aussegnungsplatz zum Grab getragen und selbst abgelassen.

    Als ich nach Hause kam, lag ein Buch mit Illustrationen im Briefkasten, das ich bestellt hatte. “Finding Joy” von Gary Andrews. Gary hat 2017 seine Frau Joy verloren, sie starb an einer Sepsis. Das muss kurz nach Titiens Diagnose gewesen sein.

    Ich folge Gary seither auf Twitter. Er verarbeitet seine Trauer, in dem er dort jeden Tag eine Zeichnung publiziert. Jetzt, am 3. September, sind die Illustrationen der letzten Jahre in Buchform erschienen.

    Ich habe das Buch gestern Abend noch aufgeschlagen. Ich bin mit meinem Prozess der Trauer auf der dritten Seite. Wir waren im Wald und haben von Titien Abschied genommen. Dabei brach das Licht durch die Blätter.

    Titien vor unserem Baum (2017)
  • In der geliehenen Zeit

    In der geliehenen Zeit

    Vorgestern am späten Nachmittag hatte Titien im Liegen eine Atemfrequenz von 35 Zügen pro Minute. Laut Wikipedia sind 12-18 für Erwachsene normal. Im Sitzen wurde es besser. Sie wollte, dass ich bei ihr bleibe und nicht auf dem Balkon auf mein Rennrad steige, um für eine Stunde auf der Rolle zu strampeln.

    Sie ahnte vielleicht schon was ich nicht wusste: Das war unser letzter gemeinsamer Nachmittag mit ihr bei vollem Bewusstsein.

    Titien wollte schon früh ihre Medikamente für die Nacht: Das Antibiotikum im Eierbecher zermörsert für die entzündete Magensonde. Diazepam zur Krampflösung, Muskelentspannung und um besser schlafen zu können. Novalgin um Schmerzen gar nicht erst durchkommen zu lassen. Pregabalin zur Behandlung von Nervenschmerzen und zur Verbeugung eventueller epileptischer Muskelkontraktionen. Laxoberal um die Darmperistaltik zu unterstützen.

    Alles zusammen in ein Glas, mit Wasser aufgießen, auf die 100 ml Spritze aufziehen und rein in die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie, vulgo Magensonde).

    Danach, auf ihren Wunsch, die Patientin vom Pflegebett ins Ehebett umlagern. Trotz höhenverstelltem Kopfteil fängt Titien in Rückenlage sofort an, nach Luft zu schnappen. Ich setze sie wieder auf; die Atmung normalisiert sich. Ich lasse sie langsam wieder aufs Kopfkissen gleiten – Schnappatmung setzt ein.

    Ich richte sie wieder auf, und setze mich hinter sie, um sie zu stützen. Meine Schultern, mein Körper, meine Arme, Beine und Hände sind größer und breiter als ihre. Ich umarme sie vollständig und versuche, ihr so im Sitzen Geborgenheit zu bieten. Ihre Atmung normalisiert sich. Ich stelle mich auf eine lange Nacht ein.

    Titien geht es nicht gut. Ich überzeuge sie, doch Morphium zu nehmen, um die Atmung zu entspannen. Dennoch, ich kann sie im weiteren Verlauf des Abends immer weniger zurück lehnen, bis Schnappatmung einsetzt. Ich mache mir sorgen, dass wir so die Nach nicht überstehen. Ich rufe um kurz nach Mitternacht den Notarzt.

    Eine Ärztin und drei Pfleger stehen bei uns in der Wohnung. Meine Generalvollmacht, ihre Patientenverfügung, der Medikamentenplan und der jüngste Arztbrief werden gelesen und geprüft. Ich wiederhole auch mündlich, dass wir nicht möchten, dass sie ins Krankenhaus kommt und dort intubiert wird.

    Titien wird mit einem tragbaren Gerät Puls und Sauerstoffsättigung gemessen und es gib noch einige Ratschläge zum richtigen Lagern der Patientin, bevor – etwas antiklimaktisch – das weitere Vorgehen verkündet wird: Bitte eine Schmelztablette Tavor 1 mg in die Backentasche und weiter sitzend lagern, inzwischen wieder im Pflegebett.

    Ich gebe ihr später noch 10 mg Morphin und sitze bis morgens bei ihr und halte sie. Ihre Atmung bleibt flach, ihre Augen geschlossen. Irgendwann lege ich mich ins Bett und schlafe auch eine Stunde.

    Ich wache um sieben wieder auf, ihre Atmung ist unverändert flach. Sie reagiert nicht auf Ansprache, Auch die Finger ihrer rechten Hand, die sie am Vortag noch zur Kommunikation genutzt hatte, bewegen sich nicht mehr.

    Ich hebe ihren Kopf, ihre Augen öffnen sich. Ich frage, ob sie bequem sitzt. Sie blinzelt einmal müde. Das heißt ja und das ist die letzte Antwort, die ich von ihr bekomme.

    Schläft sie? Ich sitze bei ihr und halte ihre warme Hand. Ich erzähle ihr von unserer gemeinsamen Zeit. Sie hört ja noch.

    Nach der langen Nacht
    Geht dein Atem weiter
    Nur wenn du so liegst,
    Gerade, auf der Schneide

    Deine Augen sind geschlossen
    Doch da ist noch ein Spalt
    Von unten kann ich sehen
    Dass du schon weiter schaust.

    Wirst du dann geholt?
    Oder gehst du einfach leise?
    Dein Atem wird es weisen

    Nach der Dämmerung,
    An Ende der geliehenen Zeit
    Bleibe ich hier alleine.

  • Wie geht das Hier und Jetzt?

    Wie geht das Hier und Jetzt?

    Titien und ich haben ein Mantra, dem wir mindestens seit der Diagnose folgen: Lebe im Hier und Jetzt. Was sich wie eine abgedroschene Floskel der Ratgeberliteratur Bereich Lebenshilfe anhört, hat für uns tatsächlich Bedeutung. Wir haben erkannt, wie wertvoll die Zeit ist, die uns bleibt. 

    Wir haben bewusst Entscheidungen getroffen, die Zeit nicht damit zu verbringen über die Vergangenheit nachzudenken. Oder über den hypothetischen Fall, dass Titien nicht mit DIPG diagnostiziert worden wäre.

    Genauso wenig lohnt es sich, weit in die Zukunft zu denken, wenn die Prognose maximal zwei Jahre lautet. Wenn wir Ziele hatten, dann kurz- bis maximal mittelfristig.

    Noch einmal Weihnachten feiern. Den Besuch der Familie in Korea noch erleben. Die Freundinnen in Barcelona treffen. Israel noch sehen. Haben wir alles geschafft. Das letzte Ziel war, Titiens Geburtstag am 24. Juni. Jetzt setzen wir keine Ziele mehr. 

    Aber wie leben wir im Hier und Jetzt? Vor eineinhalb Jahren habe ich das so fomuliert:

    „Das eine Extrem ist, jeden Tag zu leben als wäre es der letzte. Das andere Extrem ist, die Krankheit zu ignorieren und so weiter zu machen, als wenn nichts wäre. Mein dritter Weg ist pragmatisch, reflektiert. Ich nehme unsere gemeinsame Zeit sehr viel bewusster war. Alles bekommt eine Bedeutung. Ihr dritter Weg ist spirituell. Sie liest in der Bibel und schreibt über ihren Glauben.“

    Jetzt, da ihr immer weniger Zeit bleibt, weiß ich nicht mehr genau, was das heißt, gemeinsam im Hier und Jetzt zu leben. Bin ich nicht genug für sie da, wenn ich tags Projektbesprechungen über Zoom habe und an Texten für kurze Filme über Wissenschaftskommunikation arbeite?

    Verschwende ich unsere gemeinsame Zeit, wenn ich mit meinem Handy am Frühstückstisch rumspiele? Oder wenn ich über Kopfhörer Podcasts höre? Oder ist das der Ausgleich, den ich brauche, um nicht depressiv oder irre zu werden?

    Wird die Zeit immer wertvoller, je weniger man davon hat, oder bleibt der Wert der Zeit gleich, und man erkennt ihn, wenn einem einmal die Endlichkeit bewusst wird?

    Als ich meine Mutter ihre letzten anderthalb Jahre mit Bauchspeicheldrüsenkrebs pflegte, hatte ich lange vor ihrem Tod ein rettendes Ufer vor Augen. Ich konnte mir ausmalen, was danach passieren würde, was wir Brüder mit dem Haus machen, dass ich nach Karlsruhe ziehen würde.

    Jetzt bei Titien sehe ich kein Land. Im Hier und Jetzt gibts nur Wasser. Ich merke, wie die Welle sich hinter mir aufbaut. Irgendwann bricht sie, und dann werde ich irgendwo an Land gespült. Ich bin ein guter Schwimmer.

  • Wie es Titien aktuell geht

    Wie es Titien aktuell geht

    Titiens Gesundheitszustand verschlechtert sich leider weiter. Sie schläft viel oder döst vor sich hin. Der Tumor in ihrem Hirnstamm lähmt alle ihre Muskeln. Sie kann den Kopf nicht mehr halten und wenn ich oder eine Armlehne sie nicht stützen, kippt sie auf dem Sofa um oder aus dem Rollstuhl. 

    Ihre Beine können ihren Körper nicht mehr halten. Jedesmal, wenn ich sie vom Bett auf den Toilettenstuhl, in die Dusche, aufs Sofa, in den Rollstuhl und zurück hebe, lastet ihr volles Gewicht auf mir. Ich achte darauf immer aus den Knien zu heben, der Hexenschuss ist zum Glück weg.

    Ihr linker Arm ist mehr oder weniger funktionslos und baumelt an ihrer Seite. Sie kann aktuell noch ihr Handy darin halten und mit der rechten Hand  mühsam tippen. Sie schreibt weiter Blogposts und Anweisungen und Wünsche für mich. 

    Das Handy ist noch ein Kommunikationskanal, den wir haben. Sie kann eigentlich nicht mehr sprechen. Ich errate aus ihren Lauten, was sie möchte (Wasser, Tee, aufs Klo, das Kopfkissen anders, …) Vieles erschließt sich aus dem Kontext und vieles folgt etablierten Routinen.

    Titien muss inzwischen gefüttert werden. Ich habe ihr mehrere Lätze gekauft, so dass der Teil der festen und flüssigen Nahrung, der nicht geschluckt wird, aufgefangen wird bevor er auf Kleidung und Fussboden landet. 

    Sie kann nur noch weiche Nahrung essen. Porridge geht, reife Früchte sehr klein geschnitten gehen. Passierte Suppen gehen. Brot ohne Kruste mit dick Frischkäse drauf geht. Scharfes Essen geht nicht mehr. Sie kaut sehr langsam.

    Sie verschluckt sich dennoch beim essen und trinken und kann dann nur mit Mühe die Luftröhre wieder frei husten. Ich fühle mich hilflos, wenn ich sie vornübergebeugt halte und auf den Rücken klopfe. 

    Titiens Atmung geht rasselnd. Vorgestern war deshalb ein Arzt hier, weil wir den Verdacht hatten, dass Titien Wasser in der Lunge hat. Es gab zum Glück Entwarnung. Aber eine Lungenentzündung durch aspiriertes Essen oder Trinken ist eine reelle Gefahr, mit der wir uns auseinander setzen müssen.

    Titien hat eine Magensonde durch die Bauchdecke liegen. Sie hat sowohl in ihrer Patientenverfügung als auch mehrfach mündlich erklärt, dass sie darüber zwar Flüssigkeit, aber kein Essen möchte.