Monat: August 2020

  • In der geliehenen Zeit

    In der geliehenen Zeit

    Vorgestern am späten Nachmittag hatte Titien im Liegen eine Atemfrequenz von 35 Zügen pro Minute. Laut Wikipedia sind 12-18 für Erwachsene normal. Im Sitzen wurde es besser. Sie wollte, dass ich bei ihr bleibe und nicht auf dem Balkon auf mein Rennrad steige, um für eine Stunde auf der Rolle zu strampeln.

    Sie ahnte vielleicht schon was ich nicht wusste: Das war unser letzter gemeinsamer Nachmittag mit ihr bei vollem Bewusstsein.

    Titien wollte schon früh ihre Medikamente für die Nacht: Das Antibiotikum im Eierbecher zermörsert für die entzündete Magensonde. Diazepam zur Krampflösung, Muskelentspannung und um besser schlafen zu können. Novalgin um Schmerzen gar nicht erst durchkommen zu lassen. Pregabalin zur Behandlung von Nervenschmerzen und zur Verbeugung eventueller epileptischer Muskelkontraktionen. Laxoberal um die Darmperistaltik zu unterstützen.

    Alles zusammen in ein Glas, mit Wasser aufgießen, auf die 100 ml Spritze aufziehen und rein in die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie, vulgo Magensonde).

    Danach, auf ihren Wunsch, die Patientin vom Pflegebett ins Ehebett umlagern. Trotz höhenverstelltem Kopfteil fängt Titien in Rückenlage sofort an, nach Luft zu schnappen. Ich setze sie wieder auf; die Atmung normalisiert sich. Ich lasse sie langsam wieder aufs Kopfkissen gleiten – Schnappatmung setzt ein.

    Ich richte sie wieder auf, und setze mich hinter sie, um sie zu stützen. Meine Schultern, mein Körper, meine Arme, Beine und Hände sind größer und breiter als ihre. Ich umarme sie vollständig und versuche, ihr so im Sitzen Geborgenheit zu bieten. Ihre Atmung normalisiert sich. Ich stelle mich auf eine lange Nacht ein.

    Titien geht es nicht gut. Ich überzeuge sie, doch Morphium zu nehmen, um die Atmung zu entspannen. Dennoch, ich kann sie im weiteren Verlauf des Abends immer weniger zurück lehnen, bis Schnappatmung einsetzt. Ich mache mir sorgen, dass wir so die Nach nicht überstehen. Ich rufe um kurz nach Mitternacht den Notarzt.

    Eine Ärztin und drei Pfleger stehen bei uns in der Wohnung. Meine Generalvollmacht, ihre Patientenverfügung, der Medikamentenplan und der jüngste Arztbrief werden gelesen und geprüft. Ich wiederhole auch mündlich, dass wir nicht möchten, dass sie ins Krankenhaus kommt und dort intubiert wird.

    Titien wird mit einem tragbaren Gerät Puls und Sauerstoffsättigung gemessen und es gib noch einige Ratschläge zum richtigen Lagern der Patientin, bevor – etwas antiklimaktisch – das weitere Vorgehen verkündet wird: Bitte eine Schmelztablette Tavor 1 mg in die Backentasche und weiter sitzend lagern, inzwischen wieder im Pflegebett.

    Ich gebe ihr später noch 10 mg Morphin und sitze bis morgens bei ihr und halte sie. Ihre Atmung bleibt flach, ihre Augen geschlossen. Irgendwann lege ich mich ins Bett und schlafe auch eine Stunde.

    Ich wache um sieben wieder auf, ihre Atmung ist unverändert flach. Sie reagiert nicht auf Ansprache, Auch die Finger ihrer rechten Hand, die sie am Vortag noch zur Kommunikation genutzt hatte, bewegen sich nicht mehr.

    Ich hebe ihren Kopf, ihre Augen öffnen sich. Ich frage, ob sie bequem sitzt. Sie blinzelt einmal müde. Das heißt ja und das ist die letzte Antwort, die ich von ihr bekomme.

    Schläft sie? Ich sitze bei ihr und halte ihre warme Hand. Ich erzähle ihr von unserer gemeinsamen Zeit. Sie hört ja noch.

    Nach der langen Nacht
    Geht dein Atem weiter
    Nur wenn du so liegst,
    Gerade, auf der Schneide

    Deine Augen sind geschlossen
    Doch da ist noch ein Spalt
    Von unten kann ich sehen
    Dass du schon weiter schaust.

    Wirst du dann geholt?
    Oder gehst du einfach leise?
    Dein Atem wird es weisen

    Nach der Dämmerung,
    An Ende der geliehenen Zeit
    Bleibe ich hier alleine.

  • Wie DIPG unsere Kommunikation erodiert

    Wie DIPG unsere Kommunikation erodiert

    Hier zu Hause ist es sehr viel ruhiger geworden, seit Titien nicht mehr richtig sprechen kann. Es war natürlich sie, die in unserer Beziehung die Kommunikation initiiert und am Laufen gehalten hat. Mir fehlt das.

    In den letzten Monaten wurde ihre Stimme immer nasaler, was sie störte. Aber sie war noch gut zu verstehen. In den letzten Wochen wurde aus sprechen ein Nuscheln und ich musste immer häufiger nachfragen, was sie denn gerade gesagt hatte. Das war frustrierend und führte dazu, dass sie immer weniger sprach.

    Ihre Aussprache lies weiter nach, auch ihre Handschrift war nicht mehr zu entziffern, so dass wir dazu übergingen, mit dem Handy zu kommunizieren. Sie schrieb und ich antwortete ihr verbal.

    Dann fiel ihr das Tippen immer schwerer und sie hatte Mühe, ihr Telefon zu halten. Inzwischen konnte ich auch wiederholt gesprochene, einzelne Worte nicht verstehen.

    Wir entwickelten eine Fragetechnik: Willst du etwas trinken? Etwas essen? Was mit Medikamenten? Soll ich deine Position ändern? Dann kommen Folgefragen: Wasser oder Saft oder Tee? Kopf oder Arme oder Beine anders?

    Vor ein paar Tagen konnte sie noch mit Lauten die Ja oder Nein ähnelten antworten. Jetzt sind die Finger ihrer rechten Hand und die Augenlider die einzigen Körperteile, die sie noch aktiv bewegen kann.

    Ein Finger oder einmal blinzeln heißt Ja. Zwei Finger oder zweimal blinzeln heißt Nein. Ein, zwei, oder drei Finger entsprechen Optionen, die ich ihr aufzähle.

    Wenn sie mir etwas sagen will, das nicht ins Raster aus trinken, essen, Medikamente und Liegeposition passt, dann fange ich mit dem ABC an und sie tippt mit einem Finger auf meine Hand, wenn wir beim richtigen Buchstaben sind.

    abcde ich spüre ihr Tippen
    Wieder zurück: B C, sie tippt. Erster Buchstabe C
    abcdefghijk ich spüre ihr Tippen
    Wieder zurück:F G H, sie tippt. Zweiter Buchstabe H
    Am Schluss steht da CHECK FACEBOOK auf meinem Block und ich weiß, dass ich ihr die Kommentare zu ihrem letzten Facebook-Eintrag vorlesen soll, den sie schon vor drei Wochen vorgeschrieben hatte, als sie noch das Handy bedienen konnte, und den ich gestern in ihrem Namen publiziert habe.

    Gestern Abend wollte sie mir noch was sagen:
    abcdefghi
    abcdefghijklmnopqrstuvw
    abcdefghi
    abcdefghijkl
    abcdefghijkl
    abcd
    abcdefghi
    abcde
    abcdefghijklmn
    abcde
    abcdefghijklmnopqrstuvwx
    abcdefghijklmnopqrst
    abcdefghijklmnopqrstuvw
    abcde
    abcde
    abcdefghijk

  • Wie geht das Hier und Jetzt?

    Wie geht das Hier und Jetzt?

    Titien und ich haben ein Mantra, dem wir mindestens seit der Diagnose folgen: Lebe im Hier und Jetzt. Was sich wie eine abgedroschene Floskel der Ratgeberliteratur Bereich Lebenshilfe anhört, hat für uns tatsächlich Bedeutung. Wir haben erkannt, wie wertvoll die Zeit ist, die uns bleibt. 

    Wir haben bewusst Entscheidungen getroffen, die Zeit nicht damit zu verbringen über die Vergangenheit nachzudenken. Oder über den hypothetischen Fall, dass Titien nicht mit DIPG diagnostiziert worden wäre.

    Genauso wenig lohnt es sich, weit in die Zukunft zu denken, wenn die Prognose maximal zwei Jahre lautet. Wenn wir Ziele hatten, dann kurz- bis maximal mittelfristig.

    Noch einmal Weihnachten feiern. Den Besuch der Familie in Korea noch erleben. Die Freundinnen in Barcelona treffen. Israel noch sehen. Haben wir alles geschafft. Das letzte Ziel war, Titiens Geburtstag am 24. Juni. Jetzt setzen wir keine Ziele mehr. 

    Aber wie leben wir im Hier und Jetzt? Vor eineinhalb Jahren habe ich das so fomuliert:

    „Das eine Extrem ist, jeden Tag zu leben als wäre es der letzte. Das andere Extrem ist, die Krankheit zu ignorieren und so weiter zu machen, als wenn nichts wäre. Mein dritter Weg ist pragmatisch, reflektiert. Ich nehme unsere gemeinsame Zeit sehr viel bewusster war. Alles bekommt eine Bedeutung. Ihr dritter Weg ist spirituell. Sie liest in der Bibel und schreibt über ihren Glauben.“

    Jetzt, da ihr immer weniger Zeit bleibt, weiß ich nicht mehr genau, was das heißt, gemeinsam im Hier und Jetzt zu leben. Bin ich nicht genug für sie da, wenn ich tags Projektbesprechungen über Zoom habe und an Texten für kurze Filme über Wissenschaftskommunikation arbeite?

    Verschwende ich unsere gemeinsame Zeit, wenn ich mit meinem Handy am Frühstückstisch rumspiele? Oder wenn ich über Kopfhörer Podcasts höre? Oder ist das der Ausgleich, den ich brauche, um nicht depressiv oder irre zu werden?

    Wird die Zeit immer wertvoller, je weniger man davon hat, oder bleibt der Wert der Zeit gleich, und man erkennt ihn, wenn einem einmal die Endlichkeit bewusst wird?

    Als ich meine Mutter ihre letzten anderthalb Jahre mit Bauchspeicheldrüsenkrebs pflegte, hatte ich lange vor ihrem Tod ein rettendes Ufer vor Augen. Ich konnte mir ausmalen, was danach passieren würde, was wir Brüder mit dem Haus machen, dass ich nach Karlsruhe ziehen würde.

    Jetzt bei Titien sehe ich kein Land. Im Hier und Jetzt gibts nur Wasser. Ich merke, wie die Welle sich hinter mir aufbaut. Irgendwann bricht sie, und dann werde ich irgendwo an Land gespült. Ich bin ein guter Schwimmer.

  • Wie es Titien aktuell geht

    Wie es Titien aktuell geht

    Titiens Gesundheitszustand verschlechtert sich leider weiter. Sie schläft viel oder döst vor sich hin. Der Tumor in ihrem Hirnstamm lähmt alle ihre Muskeln. Sie kann den Kopf nicht mehr halten und wenn ich oder eine Armlehne sie nicht stützen, kippt sie auf dem Sofa um oder aus dem Rollstuhl. 

    Ihre Beine können ihren Körper nicht mehr halten. Jedesmal, wenn ich sie vom Bett auf den Toilettenstuhl, in die Dusche, aufs Sofa, in den Rollstuhl und zurück hebe, lastet ihr volles Gewicht auf mir. Ich achte darauf immer aus den Knien zu heben, der Hexenschuss ist zum Glück weg.

    Ihr linker Arm ist mehr oder weniger funktionslos und baumelt an ihrer Seite. Sie kann aktuell noch ihr Handy darin halten und mit der rechten Hand  mühsam tippen. Sie schreibt weiter Blogposts und Anweisungen und Wünsche für mich. 

    Das Handy ist noch ein Kommunikationskanal, den wir haben. Sie kann eigentlich nicht mehr sprechen. Ich errate aus ihren Lauten, was sie möchte (Wasser, Tee, aufs Klo, das Kopfkissen anders, …) Vieles erschließt sich aus dem Kontext und vieles folgt etablierten Routinen.

    Titien muss inzwischen gefüttert werden. Ich habe ihr mehrere Lätze gekauft, so dass der Teil der festen und flüssigen Nahrung, der nicht geschluckt wird, aufgefangen wird bevor er auf Kleidung und Fussboden landet. 

    Sie kann nur noch weiche Nahrung essen. Porridge geht, reife Früchte sehr klein geschnitten gehen. Passierte Suppen gehen. Brot ohne Kruste mit dick Frischkäse drauf geht. Scharfes Essen geht nicht mehr. Sie kaut sehr langsam.

    Sie verschluckt sich dennoch beim essen und trinken und kann dann nur mit Mühe die Luftröhre wieder frei husten. Ich fühle mich hilflos, wenn ich sie vornübergebeugt halte und auf den Rücken klopfe. 

    Titiens Atmung geht rasselnd. Vorgestern war deshalb ein Arzt hier, weil wir den Verdacht hatten, dass Titien Wasser in der Lunge hat. Es gab zum Glück Entwarnung. Aber eine Lungenentzündung durch aspiriertes Essen oder Trinken ist eine reelle Gefahr, mit der wir uns auseinander setzen müssen.

    Titien hat eine Magensonde durch die Bauchdecke liegen. Sie hat sowohl in ihrer Patientenverfügung als auch mehrfach mündlich erklärt, dass sie darüber zwar Flüssigkeit, aber kein Essen möchte.