Wie Claas Relotius wohl Weihnachten verbringt? Vielleicht bei seinen Eltern. In vertrauter Umgebung im Bildungsbürgertum. Klassische Musik kommt leise aus den zu groß geratenen Standlautsprechern im Wohnzimmer. Es ist Brahms. Ein Holzscheit knackt im offenen Kaminofen. Relotius sitzt im selben Ledersessel, in dem er sonst immer sitzt, wenn er bei seinen Eltern zu Besuch ist. Er versucht sich auf die Musik zu konzentrieren. Denn sobald seine Gedanken abschweifen, wird ihm schwindelig. 
Er kann einem schon fast wieder Leid tun, wie er jetzt in den Medien von den ehemaligen Kollegen auseinander genommen wird. Von denen, die es immer schon wussten, und denen, die ihre Empörung öffentlich teilen müssen. Und von den Lesern. Jenen, die jetzt den Untergang des SPIEGEL prophezeien, und von jenen, die meinen, dass die Reportage, also die von Relotius bevorzugte journalistische Darstellungsform, als Format ausgedient hat.
Letztere Stimme kommt auch aus der Ecke der Wissenschaft. Mein Eindruck ist, dass viele Forschende eine Aversion gegen das Geschichten erzählen in der Wissenschaftskommunikation haben. Große Fallzahlen zählen mehr als Anekdoten. Porträtierte Einzelschicksale wirken aber mehr als die statistisch signifikanten Ergebnisse des letzten Papers. Das wird als ungerecht wahrgenommen. 
Auch Julika Griem, Vizepräsidentin der DFG, fragte in ihrem Vortrag beim diesjährigen Forum Wissenschaftskommunikation, warum “alle gegenwärtig auf erzählerische Vermittlung setzen”. Sie wünscht sich, dass die Wissenschaftskommunikation ihr Publikum nicht nur einseitig mit Narrativen füttert und “irgendwo abholt, sondern sorgfältig, umsichtig, furchtlos und […] zärtlich überfordert”. Hier das Transkript ihrer Rede als pdf. Die Wissenschaftskommunikation bräuchte laut Griem “keinen barrierefreien Abenteuerspielplatz, sondern ein bisschen mehr hartnäckigen und frustrationstoleranten Ernst für die Sache”.
Bei allem Ernst: Wer als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler Zielgruppen jenseits der eigenen Fachcommunity erreichen will, muss lernen, die sachliche Wohlfühlecke zu verlassen. Eine gute Geschichte bleibt eine gute Geschichte. Sie soll das erzählen, was die Daten aussagen. Und wahr muss sie sein.

Bild: Großvater erzählt eine Geschichte von Samuel Albrecht Anker. Gemeinfreie Lizenz.

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32 Kommentare

  1. @Tobias Maier Die Aversion gegen Anekdoten ist bei vielen wissenschaftlich denkenden Menschen ausgeprägt.
    Ich denke wer trockene Daten sprechen lässt, wird kaum gehört. Besser ist es eine passende Anekdote, den Daten voranzustellen und eventuell auch mit einer zu den Daten passenden Anekdote zwischendurch etwas aufzulockern
    Und auf jeden Fall schließe ich mich Thilo an. Klasse Beitrag mit einem super ersten Absatz.

  2. Danke für die Kommentare.
    roel, ja Geschichten helfen. Nur so ganz nach Rezept funktioniert das meistens nicht. Ich glaube, das ist auch, was Frau Griem in ihrem Vortag ausdrücken wollte.
    Fröhliche Weihnachten 🙂

  3. Der erste Absatz ist schön einfühlsam – man kann so richtig in das Innenleben des Beschriebenen abtauchen. Spannende (unerwartete) Wendungen, wie ein plötzlicher Stromausfall (die Folge, Musik weg, Ohrensausen etc.) könnten es noch ein wenig aufheitern.

    OT1:
    Als Laie fragt man sich schon, wie man in Zukunft seine “Qualitäts”-Medien auswählen soll! 🙂
    (Zur Sicherheit bleibe ich bei den Scienceblogs, da gab es noch nie ein Problem, tolle Geschichten/Inhalte.)
    OT2:
    Nicht jeder (gute) Wissenschaftler kann oder muss gute Geschichten erzählen können. Ein Nachteil ist es jedoch nicht – man kommt gut beim Publikum (welchem?) an, dem man auch sonst alles und mögliche erzählen kann.(?) Wenn eine gute Geschichte (was ist eine gute Geschichte) noch zum Inhalt passt, dann wird es perfekt.

  4. Der erste Absatz könnte auch ganz ähnlich, aber doch ganz anders lauten – von einem anderen Naturwissenschaftler mit etwas anderer Phantasie …
    Z. B.:
    Wie Claas Relotius wohl Weihnachten verbringt? Vielleicht in seiner Stamm-Bar mit alten Freunden, denn seine Eltern leben nicht mehr. In vertrauter Umgebung im Yuppie-/Intellektuellenmilieu. Jazziger Funk-Pop von der Playlist wummert halblaut aus den kleinen hochwertigen Boxen beim Tresen. Es ist “Steely Dan”. Die Klimaanlage röhrt etwas. Relotius sitzt auf dem selben Barhocker, auf dem er sonst immer sitzt, wenn er auf seine alten Freunde wartet. Er versucht sich auf die Musik zu konzentrieren. Denn sobald seine Gedanken abschweifen, wird ihm bewusst, wie blöd er war, dass er sich hat erwischen lassen – und starrt weiter in sein “Köstritzer”.
    … Die Macht der Geschichten … es ist ein weites Feld … !

  5. … Und noch ne Version:
    Wie Claas Relotius wohl Weihnachten verbringt? Vielleicht bei Ex-Ehefrau und Kind. In immer noch vertrauter Umgebung der früheren gemeinsamen Wohnung im Reihenhaus eines Neubaugebietes. Lieder vom CD-Player tönen laut und fröhlich aus dem Kinderzimmer seiner kleinen Tochter. Es sind die Songs der “Biene Maja”. Im Heizkörper des Wohnzimmers gluckert es leise. Relotius liegt auf dem selben Sofa, auf dem er sonst immer liegt, wenn er bei seiner geschiedenen Frau zu Besuch ist. Er versucht sich auf nichts zu konzentrieren. Denn sobald seine Gedanken wieder zu seinem verpatzten journalistischen Erfolg abschweifen, wird ihm schwindelig – und es plagt ihn die Frage, wie er das später mal seiner Tochter erklären soll.

  6. @ Thilo:
    Warum nur oder besonders im Bildungsbürgertum?
    Die Tradition des Geschichtenerzählens gab es doch m. W. vorwiegend im dörflichen/bäuerlichen Umfeld; die Leute dort hatten keine/wenig Bücher/Lektüre, kein Klavier o. ä. zum Musizieren, kaum Möglichkeiten zur Alltags-“Freizeitgestaltung”.
    Und so saß man abends nach getaner Arbeit zusammen und hat erzählt und zugehört – so hat es mir immer wieder meine Mutter beschrieben, die noch so aufgewachsen ist. Die Abbildung oben zeigt ja auch eher kein Bildungsbürgertum.
    Mir ging es in den beiden Versuchen anderer Versionen des 1. Abschnitts darum, in etwa zu zeigen, dass man den selben Haupt-Sachverhalt in unterschiedliche Geschichten einbetten kann, in verschiedene Kontexte stellen kann, und so auch einen jeweils anderen Eindruck vermitteln kann.
    Darin liegt m. E. auch die Gefahr beim Geschichtenerzählen als Mittel der Wissenschaftskommunikation.
    Aber das kann ich jetzt, mitten in der Nacht, nicht mehr näher erörtern …

  7. ggg
    Welch schöne (Weihnachts)geschichten. Waren journalistische Leistungen früher besser, als sie noch besser bezahlt wurden? Zu viel Konkurrenz / Aufsichtsräte / Aktienbesitzer? Wer blickt da noch durch?
    Kürzlich in der Apotheke, ich: “Haben sie was gegen eine beginnende Erkältung”, sie “Ja, …blah blah – Esoterik-Globuli-Quatsch …”. Ich musste laut lachen und erklärte ihr mein Problem mit Aberglauben. Merke, in Apotheken erzählen sie einem immer die selben Geschichten im Kindergartenjargon – keine Fantasie, nur Verkaufsgewäsch.
    Mit etwas Fantasie lassen sich Bestseller schreiben – der Markt, das Triviale (BILD etc.) … hat Recht – so funktioniert die Wirtschaft.
    Hier schlummern verborgene Talente, da lässt sich einiges an €€€ machen …

  8. @ Tobias Maier, # 11:
    Zur Person des Claas Relotius hatte/habe ich bisher absichtlich überhaupt nichts recherchiert, weil ich denke, dass es darauf überhaupt nicht ankommt.
    M. E. kommt es darauf an, was er im Rahmen seiner journalistischen Arbeit getan hat und warum er da “moralisch nicht integer” bzw. unredlich war.
    Ich vermute auch, dass nicht alle (erfolgreichen) Journalisten aus dem Bildungsbürgertum kommen, wo man zuhause zu Weihnachten traditionell Klassik hört und der Kaminofen knistert – wie es in deiner Anfangs-Version beispielhaft bei der Schilderung des “weihnachtlichen Privatlebens” des C. R. nahegelegt wird.
    Insofern sieht man, dass man in Narrative, in Geschichten, alles Mögliche rein- und draufpacken kann – zu allen möglichen Zwecken.
    Es sind wahrlich “barrierefreie Abenteuerspielplätze” (lt. Griem) mit viel Raum für Phantasie und Kreativität und fürs Austoben.
    Trotzdem sollte man versuchen, Daten, Zahlen, Statistiken, Studien etc. "ein Gesicht zu verleihen", zu veranschaulichen - und dabei "seriös"/redlich vorgehen.
    Davon kann man aber leider nicht (immer) ausgehen.
    Wer kontrolliert es, prüft es (unabhängig/kompetent) nach?
    Ein schwieriges, interessantes und wichtiges Thema - danke für
    s aktuelle Aufgreifen.
    Dieser Fall des Journalisten C. R. bedeutet wieder mal einen großen Schaden für die “Qualitätsmedien” und deren Glaubwürdigkeit – schade …

  9. Nachtrag zu # 13:
    M. E. birgt das Geschichtenerzählen in der Wissenschaftskommunikation enormes Manipulations- und Missbrauchspotenzial (Eigeninteressen, Lobbyismus, Propaganda).
    Zumal man es selbst innerhalb der wissenschaftlichen Fachcommunitys oft nicht schafft, die Spreu vom Weizen zu trennen …
    Selbst in den dortigen “sachlichen Wohlfühlecken” wird oft zu wenig nachgeprüft.

  10. Er hat seine Leser unterhalten. Er hat auch keine Werbung für irgendwelche Haifischknorpel gemacht, um sich die Taschen zu füllen. Ich nehme ihm nichts übel.

  11. @ echt?:
    Er hat – im Rahmen seiner journalistischen Arbeit – seine Leser “phantastisch” unterhalten und betrogen –
    und sich (möglicherweise) mit Spendengeldern die eigenen Taschen gefüllt.
    https://www.welt.de/kultur/medien/article186013886/Fall-Claas-Relotius-Reporter-soll-Spendengelder-von-Spiegel-Lesern-veruntreut-haben.html
    Alles nicht übel zu nehmen, ganz normal und völlig dem Zeitgeist entsprechend ?!
    Der Arme, “er kann einem schon fast wieder Leid tun” … ?!
    Na denn, fröhliche Weihnachten … !

  12. Reoltius ist die sichtbar gewordene Spitze eines Eisberges und nicht mehr.
    Eigentlich hoffe ich dass das in der Wissenschaft nicht so ist.

  13. “Der Arme, “er kann einem schon fast wieder Leid tun” … ?!”
    Wer versucht aus den Ängsten der Menschen Geld zu ziehen, ist ein XXXXX. Messen Sie da mal mit ihrem Maßstab. Ansonsten würde ich mal über das Glashaus nachdenken.

  14. zu # 18:
    Mit “er kann einem schon fast wieder Leid tun” habe ich aus dem Blog-Beitrag zitiert und mit Frage- und Ausrufezeichen versehen.
    Damit sollte ersichtlich werden, was ich von dieser Aussage halte.
    Zu Emotionen/”Herz” versus Vernunft/Verstand:
    Bei heftigen Emotionen setzt meistens der Verstand aus.
    Wer bei der Wissenschaftskommunikation hauptsächlich Emotionen ansprechen will (durch bloßes Geschichtenerzählen), will die Leute nicht aufklären, nicht argumentativ überzeugen, ihnen kein (Fach)Wissen vermitteln, sie nicht zu informierten Entscheidungen befähigen –
    sondern er will sie im Grunde manipulieren, in welche Richtung und zu welchem Zweck auch immer.

  15. @ Beobachter:

    “Wer bei der Wissenschaftskommunikation hauptsächlich Emotionen ansprechen will (durch bloßes Geschichtenerzählen), will die Leute nicht aufklären, nicht argumentativ überzeugen”

    Gibt es Wissenschaftskommunikation “durch bloßes Geschichtenerzählen” überhaupt? Wo steckt dann die Wissenschaft? Davon abgesehen, können Geschichten Wissenschaft sicher gut vermitteln, sogar erfundene Geschichten, wie z.B. “Das Theorem des Papageis” von Denis Guedj. Es ist allerdings gut, wenn man weiß, ob es sich um eine erfundene Geschichte handelt oder nicht.
    @ Markweger:

    “Reoltius ist die sichtbar gewordene Spitze eines Eisberges und nicht mehr.”

    Ich glaube, sein Name “Relotius” ist nicht falsch und muss realiter nicht in “Reoltius” korrigiert werden. Interessanter ist dagegen die Frage, woher Sie wissen, dass er die “sichtbar gewordene Spitze eines Eisberges” ist. Sie sehen demnach auch den unsichtbaren Teil des Eisbergs? Oder haben Sie das, weil es so schön in Ihr Weltbild passt, einfach erfunden, als wär’s eine Geschichte von Relotius?

  16. @ Joseph Kuhn:
    “Gibt es Wissenschaftskommunikation “durch bloßes Geschichtenerzählen” überhaupt? Wo steckt dann die Wissenschaft?”
    Die Pseudowissenschaft (als “wahre Wissenschaft”) tut nichts anderes.
    Im Keller oder hat sich in “freie Energie” und “Chemtrails” aufgelöst … 😉
    Im Übrigen hat sich auch “die (etablierte) Wissenschaft” mit ihren sog.renommierten Experten schon öfters als sehr “kreativ” in ihren Interpretationen erwiesen (siehe z. B. “Dieselskandal”).
    Der von allen Seiten (“wissenschaftlich”) beackerte durchschnittliche “Otto Normalverbraucher” kann es nicht mehr unterscheiden.
    “Davon abgesehen, können Geschichten Wissenschaft sicher gut vermitteln, sogar erfundene Geschichten, wie z.B. “Das Theorem des Papageis” von Denis Guedj. Es ist allerdings gut, wenn man weiß, ob es sich um eine erfundene Geschichte handelt oder nicht.”
    Das sollte man als Erzähler/Vermittler vorher dazusagen, damit die Zielgruppe auch weiß, ob es sich um eine unterhaltsame Märchenstunde handelt oder um “Wisssenschaftsvermittlung”.

  17. @Beobachter
    “Die Pseudowissenschaft (als “wahre Wissenschaft”) tut nichts anderes”…als Geschichten zu erzählen.
    Nur weil Pseudowissenschaft sich eines Instruments bedient, ist dieses Instrument nicht für die Wissenschaftsvermittlung ungeeignet. Beide bedienen sich auch der Sprache, den mathematischen Formeln etc.
    “Im Übrigen hat sich auch “die (etablierte) Wissenschaft” mit ihren sog.renommierten Experten schon öfters als sehr “kreativ” in ihren Interpretationen erwiesen (siehe z. B. “Dieselskandal”).”
    Überall gibt es Falschspieler, in der Wissenschaft natürlich auch und in der Wirtschaft, im privaten Leben. Die kannst du auch nicht damit ausschalten, indem du ihnen Geschichten verbietest.
    “Der von allen Seiten (“wissenschaftlich”) beackerte durchschnittliche “Otto Normalverbraucher” kann es nicht mehr unterscheiden.”
    Ich denke mal kann er es, mal auch nicht, es kommt dann auf die von ihm gewählten Medien an. Ich komme z.B. mit den scienceblogs sehr gut zurecht.
    Ich habe diverse Anläufe genommen um die Relativitätstheorien zu verstehen. Gelungen ist es mir erst mit Hilfe einer Geschichte. Ist zwar nur eine (!) Anekdote, aber anschauliche Beispiele gibt es zuhauf.

  18. Aus dem Blog-Beitrag:
    ” … Auch Julika Griem, Vizepräsidentin der DFG, fragte in ihrem Vortrag beim diesjährigen Forum Wissenschaftskommunikation, warum “alle gegenwärtig auf erzählerische Vermittlung setzen”. Sie wünscht sich, dass die Wissenschaftskommunikation ihr Publikum nicht nur einseitig mit Narrativen füttert und “irgendwo abholt, sondern sorgfältig, umsichtig, furchtlos und […] zärtlich überfordert”. Hier das Transkript ihrer Rede als pdf. … ”
    Und das ist sehr lesenswert, weil sie viele wichtige, interessante Aspekte aufführt und beleuchtet.
    Schön auch, dass da mal eine FachFRAU zum Zuge kam …

  19. @Joseph Kuhn
    In der Werbung kommt z.B. ein Dr. Best vor, der die Zahnbürste auf eine Tomate (einen Paradeiser) presst. Dies ist für die gewöhnliche Hausfrau gedacht, damit sie weiss, wie sie ihr Gemüse sauber macht. An anderer Stelle wird die Haut als ein Hexagonalgitter dargestellt, das man Erhält, wenn man genug Niveau-Creme aufträgt. An diese Geschichten hat man sich schon gewöhnt! 🙂

  20. Alternative Anfangs-Geschichte Version 3.0 –
    Update aus (möglicherweise) aktuellem Anlass:
    Wie Claas Relotius wohl Weihnachten verbringt? Vielleicht auf Ibiza in seiner alten, umgebauten Finca, die er mit Spendengeldern finanziert hat. In mittlerweile schon vertrauter spanischer ländlicher Umgebung. Gitarrenmusik kommt leise aus den Bang & Olufsen-Lautsprechern der HiFi-Anlage im Wohnraum. Es ist Flamenco. Ein Pinien-Holzscheit knackt und duftet im offenen Kamin. Relotius sitzt auf dem selben strohgeflochtenen Stuhl am alten, abgebeizten Olivenholz-Tisch, auf dem er sonst immer sitzt, wenn er dort entspannt seinen Bio-Rioja trinkt. Er versucht sich auf das zaghafte Miauen der ihm zugelaufenen streunenden Katze zu konzentrieren, die ihm zärtlich-fordernd um die Beine streicht. Denn sobald seine Gedanken abschweifen, wird ihm schwindelig – wenn er an die weiteren bevorstehenden Ermittlungen wegen seiner geringfügigen Schummeleien denkt, die neidische deutsche Kollegen nur öffentlich aufgebauscht haben.

  21. @Beobachter
    Mit diesen Talenten ist man eindeutig schon überqualifiziert, ein Bruchteil davon reicht für eine erfolgreiche Karriere beim Speigel oder beim ÖR. Preise gibts umsonst.
    M. Simmel wäre erstaunt, wie leicht das heute geht. Relotius reloaded.

  22. Kurt Tucholsky hat mal (1931 !) in Sachen/zur Sache “Reportahsche” Folgendes geschrieben:
    https://www.textlog.de/tucholsky-reportahsche.html
    Hier nur Textanfang und Textende:
    “Die Reportahsche
    Einmal hieß alles, was da kreucht und fleucht, ›nervös‹, dann ›fin de siècle‹, dann ›Übermensch‹, dann hatten sie es mit den ›Hemmungen‹ und heute haben sie es mit der Reportahsche, als welches Wort man immer so schreiben sollte. Lieber Egon Erwin Kisch, was haben Sie da angerichtet! Sie sind wenigstens ein Reporter und ein sehr guter dazu – aber was nennt sich heute nur alles »Reportage«. Es ist völlig lächerlich.
    … ”
    ” … Der große Schauspieler Victor Arnold gewann zwar den Preis nicht – aber er hatte einen der schönsten Verse gefunden. Und der hieß so:
    Mein lieber guter Tengelmann!
    Was geht denn mich dein Kaffee an
    und deine Teeplantage –
    Ach … !
    Na, dann reportiert man.”
    Heute (2018) haben sie es mit dem “Narrativ” und dem “Storytelling” … und der “Eventisierung” …

  23. @Tobias Maier und (Foto)Begleitung
    Frohe Weihnachten, einen guten Rutsch und ein spannendes 2019. Liebe Grüße roel

  24. Julika Griem kritisiert in ihrer Keynote Trends der Wissenschaftsvermittlung – und vor allem den folgenden: Die Narrativisierung von Forschung schränkt ihrer Meinung nach unsere Möglichkeiten stark ein. Sie stellt die Verwendung von “Protagonisten, mit denen sich das Publikum identifiziert” in Frage wie auch die Möglichkeit, “mit ihnen etwas über Wissenschaft auszusagen”. Zweimal spricht sie sehr ironisierend vom “Abholen des Publikums”.
    Nun versuche ich das gerade mit dem Matheblog Mathezartbitter: Junge Menschen begegnen mathematischen Problemen im Alltag. Sie meistern sie, manchmal geht was schief. Es gibt viele Bilder, ganz im Gegensatz zu den Vorstellungen meiner früheren Universitätsprofessoren, die Bilder vermieden und auf die axiomatisch aufgebauten mathematischen Werke von Nicolas Bourbaki oder Jean Dieudonné setzten. Bilder schränken die Vorstellung ein. Sie sind einerseits viel zu konkret und spezifizieren eine Situation, die gar nicht unbedingt gemeint ist und andereseits sind unsere Abbildungen ja nur 2D. Da lacht sich ja jeder Mathematiker kaputt. Besser wäre, sich mit all den Begriffen und Eigenschaften formal auseinanderzusetzen, sie sich nicht bildlich vorzustellen oder gar “bunte Bildchen” zu malen. So die Lehrmeinung. Tja, diese Kritik war nicht nur vor vielen Jahren, als ich studiert habe, ich erhalte sie auch heute – vor allem aus universitären Kreisen und fühle mich von Julika Griem kritisiert.
    Natürlich wäre es toll, immer ein bisschen über dem Niveau der Leserin oder des Lesers einzusteigen und Mathematik formal herzuleiten. Mit dem von Neumannschen Universum für die natürlichen Zahlen anzufangen und bei Kryptografie oder partiellen Differezialgleichungen anzukommen. Doch ist unsere Welt visuell und audiovisuell. Um junge Leute für etwas zu interessieren, braucht es Bilder und Leidenschaft. Leidenschaft beim Vermitteln, Leidenschaft bei der wissenschaftlichen Arbeit. Eben genau die Leidenschaft, die Max Weber gemeint hat, er hat vom “Erlebnis” Wissenschaft gesprochen, nicht vom “Abenteuer” Wissenschaft. Ohne audiovisuelle Medien, ohne jegliches Bild ist das Vermitteln auch mathematischer Inhalte durch und mit Leidenschaft meines Erachtens heute kaum möglich.
    Es wäre doch wirklich toll, wenn wir Mathematiker*innen, aber natürlich auch die anderen, ein nicht narratives Format entwickeln könnten, das auf “Formen des Beschreibens, Erklärens und Argumentierens setzt”, wo wir “unser Publikum nicht einfach irgendwo abholen, sondern auch … überfordern”, wie Julika Griem sagte. Gerne mache ich mit. Noch schöner wäre es, wenn man dabei nicht nur kritisiert sondern auch gefördert wird.

  25. @ M. Ehret, # 30:
    Danke für Ihren ausführlichen Kommentar und die Erwähnung Ihres Matheblogs “Mathezartbitter”.
    Ich denke, Sie fühlen sich unnötigerweise von J. Griem kritisiert.
    M. E. kritisiert Frau Griem etwas völlig anderes als das, was Sie wie in Ihrem Projekt vorführen, veranschaulichen und anwenden.
    Gerade zum Thema Mathematik, Anwendungen, Veranschaulichung, Unterricht gibt es interessante aktuelle Beiträge hier nebenan im Blog “Mathlog” von “Thilo”:
    http://scienceblogs.de/mathlog/2018/12/08/was-macht-die-1-im-nenner/
    http://scienceblogs.de/mathlog/2018/12/11/mathematik-unterricht/
    @ Josef König, # 31:
    Danke für die sehr lesenswerte “kleine Empfehlung” und den Link.
    Auch m. E. hat sie recht.
    Und man tut ihr unrecht bzw. versteht sie (mit Absicht?) falsch, wenn man ihr unterstellt, sie wolle zurück in den altmodischen, akademischen, leicht verknöcherten/verstaubten, nur mit abstrakten Daten gepflasterten Elfenbeinturm.

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