Kategorie: Medizin

  • In der geliehenen Zeit

    In der geliehenen Zeit

    Vorgestern am späten Nachmittag hatte Titien im Liegen eine Atemfrequenz von 35 Zügen pro Minute. Laut Wikipedia sind 12-18 für Erwachsene normal. Im Sitzen wurde es besser. Sie wollte, dass ich bei ihr bleibe und nicht auf dem Balkon auf mein Rennrad steige, um für eine Stunde auf der Rolle zu strampeln.

    Sie ahnte vielleicht schon was ich nicht wusste: Das war unser letzter gemeinsamer Nachmittag mit ihr bei vollem Bewusstsein.

    Titien wollte schon früh ihre Medikamente für die Nacht: Das Antibiotikum im Eierbecher zermörsert für die entzündete Magensonde. Diazepam zur Krampflösung, Muskelentspannung und um besser schlafen zu können. Novalgin um Schmerzen gar nicht erst durchkommen zu lassen. Pregabalin zur Behandlung von Nervenschmerzen und zur Verbeugung eventueller epileptischer Muskelkontraktionen. Laxoberal um die Darmperistaltik zu unterstützen.

    Alles zusammen in ein Glas, mit Wasser aufgießen, auf die 100 ml Spritze aufziehen und rein in die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie, vulgo Magensonde).

    Danach, auf ihren Wunsch, die Patientin vom Pflegebett ins Ehebett umlagern. Trotz höhenverstelltem Kopfteil fängt Titien in Rückenlage sofort an, nach Luft zu schnappen. Ich setze sie wieder auf; die Atmung normalisiert sich. Ich lasse sie langsam wieder aufs Kopfkissen gleiten – Schnappatmung setzt ein.

    Ich richte sie wieder auf, und setze mich hinter sie, um sie zu stützen. Meine Schultern, mein Körper, meine Arme, Beine und Hände sind größer und breiter als ihre. Ich umarme sie vollständig und versuche, ihr so im Sitzen Geborgenheit zu bieten. Ihre Atmung normalisiert sich. Ich stelle mich auf eine lange Nacht ein.

    Titien geht es nicht gut. Ich überzeuge sie, doch Morphium zu nehmen, um die Atmung zu entspannen. Dennoch, ich kann sie im weiteren Verlauf des Abends immer weniger zurück lehnen, bis Schnappatmung einsetzt. Ich mache mir sorgen, dass wir so die Nach nicht überstehen. Ich rufe um kurz nach Mitternacht den Notarzt.

    Eine Ärztin und drei Pfleger stehen bei uns in der Wohnung. Meine Generalvollmacht, ihre Patientenverfügung, der Medikamentenplan und der jüngste Arztbrief werden gelesen und geprüft. Ich wiederhole auch mündlich, dass wir nicht möchten, dass sie ins Krankenhaus kommt und dort intubiert wird.

    Titien wird mit einem tragbaren Gerät Puls und Sauerstoffsättigung gemessen und es gib noch einige Ratschläge zum richtigen Lagern der Patientin, bevor – etwas antiklimaktisch – das weitere Vorgehen verkündet wird: Bitte eine Schmelztablette Tavor 1 mg in die Backentasche und weiter sitzend lagern, inzwischen wieder im Pflegebett.

    Ich gebe ihr später noch 10 mg Morphin und sitze bis morgens bei ihr und halte sie. Ihre Atmung bleibt flach, ihre Augen geschlossen. Irgendwann lege ich mich ins Bett und schlafe auch eine Stunde.

    Ich wache um sieben wieder auf, ihre Atmung ist unverändert flach. Sie reagiert nicht auf Ansprache, Auch die Finger ihrer rechten Hand, die sie am Vortag noch zur Kommunikation genutzt hatte, bewegen sich nicht mehr.

    Ich hebe ihren Kopf, ihre Augen öffnen sich. Ich frage, ob sie bequem sitzt. Sie blinzelt einmal müde. Das heißt ja und das ist die letzte Antwort, die ich von ihr bekomme.

    Schläft sie? Ich sitze bei ihr und halte ihre warme Hand. Ich erzähle ihr von unserer gemeinsamen Zeit. Sie hört ja noch.

    Nach der langen Nacht
    Geht dein Atem weiter
    Nur wenn du so liegst,
    Gerade, auf der Schneide

    Deine Augen sind geschlossen
    Doch da ist noch ein Spalt
    Von unten kann ich sehen
    Dass du schon weiter schaust.

    Wirst du dann geholt?
    Oder gehst du einfach leise?
    Dein Atem wird es weisen

    Nach der Dämmerung,
    An Ende der geliehenen Zeit
    Bleibe ich hier alleine.

  • Austherapiert

    Austherapiert

    Gestern lag dann auch der Arztbrief im Briefkasten. Die Auswertung des PET-Scans mit Tracer hat ergeben, dass ihr Tumor im Stammhirn weiter wächst. Alle sonstigen Stellen, die im MRT verdächtig aussahen, sind offenbar nicht aktiv, also wahrscheinlich Artefakte der vergangenen Bestrahlungen.

    Was das bedeutet haben wir schon am Freitag Nachmittag erfahren. Ich verpasste den Anruf unserer Onkologin um halb zwei und rief sie zurück, als ich zurück von meiner kurzen Rennrad-Tour war.

    Ihr lägen inzwischen die Bilder des PET-Scans vor und demnach sei ein Rezidiv im Pons aufgetreten. Das sei die Stelle, an der schon zwei Mal bestrahlt wurde und eine weitere Bestrahlung hätten die Radiologen ausgeschlossen.

    Wir sollten noch einmal kommende Woche zur Avastin-Therapie kommen, aber sie denkt, dass auch nach Rücksprache mit dem Tumorboard, keine weitere Therapiemöglichkeiten bestünden.

    Schaut euch die unscharfen, farbigen Bilder gut an. Sie sind sechzehnhundert Euro wert. Die Kasse zahlt den FET-PET-Scan nämlich nicht.

    Titien geht es nicht gut. Sie ist weitestgehend auf meine Hilfe angewiesen. Sie braucht Hilfe beim Anziehen. Zum Duschen braucht sie einen Duschlift. Spazieren gehen wir nur noch mit Rollstuhl, in der Wohnung braucht sie den Rollator und kann damit auch nur mit Mühe gehen.

    Am schlimmsten ist, dass die Kommunikation mit ihr nur noch eingeschränkt möglich Kommunikation ist. Der Tumor beeinträchtigt ihre Aussprache. Je nach Tageszeit und -form ist sie schwer bist fast gar nicht zu verstehen. Das erfordert von mir Geduld und ist für sie frustrierend.

    Hier eine Liste mit schönen Momenten, ohne bestimme Reihenfolge:

    Ich habe inzwischen das Kochen übernommen. Sie sitzt dazu auf ihrem Rollator bei mir in der Küche und überwacht, dass ich für die asiatischen Rezepte auch die richtigen Zutaten in der richtigen Menge nehme.

    Wir haben 5 kg Sonneblumenkerne, 2,5 kg Erdnussbruch und 3 l getrocknete Mehlwürmer gekauft. Jeden Tag kommen Kohlmeisen, Blaumeisen, Spatzen und Amseln zu uns auf den Balkon.

    Ich kann dankenswerterweise auch weiter von zu Hause aus arbeiten und muss nicht ins Büro oder verreisen. Meine Seminare gebe ich online – und das funktioniert sehr gut. Ich habe mir einen Greenscreen gekauft. So kann ich einen Hintergrund meiner Wahl einstellen, während ich meine Seminare gebe, während Titien hinter mir auf dem Sofa liegen kann.

    Titien hat die Krankenschwestern der onkologischen Ambulanz ins Herz geschlossen. Nachdem sie letztes Jahr jeder schon ein Plüschtier geschenkt hat, folgte letzte Woche je ein T-Shirt mit dem jeweiligen Lieblingstier. Sie waren außer sich vor Freude. Meet Schwester Eule, Schwester Lama, Schwester Hund und Schwester Faultier. Nicht auf dem Bild: Schwester Panda und Schwester Papagei.

    Titien hat sehr viele Leser und bekommt sehr schöne Kommentare auf die Artikel in ihrem Blog und auf ihren Posts auf Facebook. Dort zu schreiben und mit den Leserinnen und Lesern aus aller Welt zu interagieren bedeutet ihr unheimlich viel.

    Wir sind immer sehr früh wach und haben jeden Morgen Zeit, ausgiebig zusammen zu frühstücken. Jeden Tag trinken wir Kaffee zusammen nach dem Mittagessen – oft mit Kuchen oder süßen Teilchen vom Bäcker.

    Titien hat sich ein Worteratespiel auf ihr Handy geladen. Jeden Abend bevor wir einschlafen spielen wir zusammen ein paar Runden und versuchen aus zusammenhangslosen Buchstaben die gewünschten Wörter zu bilden.Titien ist sehr viel begabter darin als ich, in etwas sinnlosem Sinn zu finden.

  • Es geht abwärts mit Titien

    Es geht abwärts mit Titien

    Titien geht es zunehmend schlechter. Ihr Zustand ändert sich fast täglich. Erste Schwierigkeiten beim Gehen und Sprechen konnten mit Dexamethason erfolgreich bekämpft werden. Jetzt hilft auch eine Erhöhung der Kortisonmenge nicht mehr, um die Symptome wirksam einzudämmen. 

    Heute Morgen waren wir noch mal in der Klinik zu unserem ambulanten Avastin-Termin. Wir haben gehofft, mit unserer Ärztin zu sprechen und das weitere therapeutische Vorgehen zu besprechen. Wir hoffen, dass noch mal eine Runde Strahlentherapie in Frage kommt. Wir hoffen, dass wir schnellstmöglich ein Termin für einen FET-PET Scan bekommen. Damit können metabolisch aktive Zellen von nekrotischen Zellen in ihrem Hirn unterschieden werden und die Strahlentherapie kann so besser geplant werden. Wir wissen noch nicht, wie und wann es weiter geht.

    Letzten Samstag waren wir noch mit dem Rollator beim Bäcker. 300 m mit Pausen dazwischen – aber machbar. Inzwischen gehen auch kurze Strecken nur noch im Rollstuhl. Vor ein paar Tagen ist Titien in der Küche gestürzt beim Versuch, den Trittmülleimer zu bedienen. Seither ist sie auch in der Wohnung nur noch mit Rollator unterwegs. Vorhin habe ich den Duschlift wieder installiert, so kann Titien beim Duschen sitzen. 

    Der Tumor in Titiens Stammhirn beeinträchtig stark ihre Aussprache. Ich muss oft nachfragen, was sie gerade gesagt und gemeint hat. Es macht uns beiden Angst zu sehen, wie unsere Kommunikation durch ihre Krankheit beeinträchtigt wird. Noch geht es und noch kann sie schreiben und tippen.

    Gerade zum Beispiel sitzt sie hinter mir auf dem Sofa mit Stift und Papier und schreibt ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem Bruder. Abschiedsbriefe.

  • Wie viele Menschen sind tatsächlich mit Corona infiziert?

    Wie viele Menschen sind tatsächlich mit Corona infiziert?

    Titien nimmt seit drei Wochen wieder Kortison, um die Symptome ihres Hirntumors in Schach zu halten. Kortison schwächt das Immunsystem, Titien ist also Teil der Risikogruppe; wir isolieren uns zu Hause so gut es geht während der Coronavirus-Pandemie.

    Doch nicht nur deshalb legen wir Wert auf Social Distancing. Wir wissen auch, dass die gemeldeten Fallzahlen die Zahl der tatsächlich infizierten Menschen weit unterschätzt. Das liegt vor allem an zwei Gründen: Es wird bei weitem nicht flächendeckend getestet, auch nicht bei Menschen die klare Symptome zeigen. Und es gibt viele Fälle, bei denen die Infektion zum Glück sehr mild verläuft. 

    Hier der Versuch einer Näherung, wie viele Menschen tatsächlich mit dem SARS-CoV-2 Virus infiziert sind oder waren. Ich gehe bei der Schätzung von der “Infection Fatality Ratio” (IFR) aus, also dem Anteil der Infizierten, die sterben.

    Die IFR beträgt etwa 1%, eine Person von 100 infizierten Personen stirbt an COVID-19. Die Zahl basiert auf einer noch nicht peer-reviewten Studie, die anhand von über 3000 PCR-Tests der 3700 Passagiere des Kreuzfahrtschiffs Diamond Princess die Infection Fatality Rate mit 1,2% (0,38-2,7%) bestimmt hat.

    In Deutschland sind aktuell 560 COVID-19 Todesfälle dokumentiert. Vom Zeitpunkt der Infektion bis zum Tod vergehen geschätzt zwei Wochen. Das heißt bei heute 560 Toten war die Gesamtzahl der Infizierten vor zwei Wochen in Deutschland bei:

    560/0,01=56.000

    Die Zahl der Toten verdoppelt sich etwa alle zwei bis drei Tage, also auch die Zahl der Infizierten. Konservativ geschätzt sind also in den letzten zwei Wochen vielleicht fünf Verdopplungen passiert. Also:

    56.000 x 2^5 = 1.792.000

    Menschen, die in Deutschland infiziert waren oder sind. Gut 2% der Bevölkerung. Laut Worldometer sind aktuell 63.929 Fälle gemeldet, 28 Fach weniger als meine Schätzung es vorschlägt.

    Italien ist trauriger Spitzenreiter mit aktuell 10.799 Corona-Toten. Laut meinem Modell müssten also 34,5 Millionen Menschen in Italien mit dem Virus infiziert sein. Das wären 57% der Gesamtbevölkerung.

    Die Zahl der Corona-Toten wird tragischerweise auch in Deutschland noch ansteigen. Nach meinem Modell müssten wir Mitte April 18.000 Todesfälle in Deutschland haben.

  • Was ist und was wir uns einbilden

    Was ist und was wir uns einbilden

    Titien ist in letzter Zeit häufiger müde als zuvor. Wir machen uns beide Sorgen, dass das ein Symptom für ein Fortschreiten der Krankheit ist, sprich dass der Tumor in ihrem Stammhirn weiter wächst.

    Alle drei Monate hat Titien einen Termin für ein Kontroll-MRT. Am Montag vergangene Woche war es wieder soweit.

    Montag, 18. September 2019

    Titien bekommt zuerst ein Kontrastmittel gespritzt, das sich spezifisch in metabolisch aktiven, also wachsenden Zellen anreichert. Dann muss sie in die Röhre. Danach können die Ärzte anhand der auf den Bildern erkennbaren Intensitätsunterschiede der betroffenen Gehirnregion beurteilen, ob der Tumor still hält oder weiter macht.

    Die Besprechung der Bilder findet immer eine Woche später statt. Meistens zusammen mit unserem Termin im Krankenhaus alle vierzehn Tage, an dem nach einem kurzen Arztgespräch normalerweise die Avastin-Therapie ansteht.

    Ich rufen immer einen Tag vorher an, um Bescheid zu geben, dass es Titien soweit gut geht, und wir den Avastin-Termin wahrnehmen können.

    Dienstag, 24. September 2019

    Titien sitzt mir gegenüber, als ich am morgens um halb acht anrufe, um unseren Termin am Mittwoch zu bestätigen. Ich versuche aus den Zwischentönen in der Stimme der Schwester am Telefon etwas über die jüngsten MRT-Ergebnisse zu erfahren und Titien versucht an meiner Mimik abzulesen, welche Zwischentöne ich höre und wie interpretiere.

    „Maier, guten Morgen, ich möchte nur kurz Bescheid geben, dass es Titien gut geht und wir morgen wie ausgemacht zu unserem Avastin-Termin kommen. Außerdem bräuchten wir einen ein paar Minuten mit der Ärztin, um die letzten MRT-Ergebnisse zu besprechen.“

    “Ja, das müssen wir auf jeden Fall machen” kommt die Antwort der Schwester am anderen Ende der Leitung.

    Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich höre Zwischentöne: Sie geht nur auf die MRT-Ergebnisse ein und nicht auf das Avastin. Heißt das, der Tumor wächst und Titien bekommt kein Avastin mehr? Und klingt ihr Tonfall nicht so, als wäre das Gespräch auf jeden Fall notwendig, was auch drauf hindeuten würde, dass der Tumor weiter wächst?

    “Ok, alles bestens und bis morgen dann” sage ich mit freundlichem Tonfall.

    Titien schaut mich mit großen, strahlenden Augen an. Sie verstand mein “alles bestens” als Aussage zu Ihren MRT Ergebnissen.

    Im Bruchteil einer Sekunde ändert sich ihre Mimik von hoffnungsvoller Freude zu Enttäuschung und Angst als ich ihr erkläre, dass nur mit der Terminabsprache alles bestens sei, ich sonst aber nichts näher weiß.

    Wir bereiten uns mental auf Mittwoch vor. Wir haben beide den Eindruck, der Tumor wächst weiter und wir diskutieren abends, wie wir auf die Nachricht reagieren sollen und welche Optionen uns bleiben. Wir schlafen beide schlecht. Ich träume sogar von MRT-Bildern mit großen, hellen, metabolisch aktiven Stellen.

    Mittwoch, 25. September 2019

    Ich bin um viertel vor sieben wach. Ich dusche und wecke Titien. Es ist schwierig, sie in Richtung Badezimmer zu bugsieren.

    Um acht sind wir im Krankenhaus. Zuerst muss – wie eigentlich immer – Blut abgenommen werden. Ich frage mich wieso, wenn doch sowieso die Avastin-Therapie nicht fortgesetzt wird. Wir kommen zurück und werden gleich von unserer Ärztin ins Sprechzimmer mitgenommen.

    Wir sitzen da wie zwei Kaninchen vor der Schlange. Die Ärztin öffnet die dicke Mappe mit Titien Unterlagen und sagt: “Es ist alles ok. Stable disease. Kein Unterschied zum letzte Mal.”

    Die Ärztin schaut uns verwundert an, als wir beide anfangen zu weinen. Ich muss ihr erklären, dass das Tränen der Erleichterung sind. Titien war noch nie so fröhlich wie dieses Mal bei der Avastin-Therapie.

  • Besprechung der neuen MRT-Ergebnisse

    Besprechung der neuen MRT-Ergebnisse

    Unsere Onkologin fragte Titien in der Besprechung der jüngsten MRT-Ergebnisse, wie es ihr ginge. Das Gangbild? Weiter unsicher aber stabil. Die Sprache? Etwas nuschelnd aber unverändert. Die Schwäche im linken Arm? Gleichbleibend. Sonstige Symptome? Alles wie bisher.

    Erst danach teilt sie uns die Ergebnisse mit. Der Tumor ist stabil. Sie dreht ihren Monitor so, dass wir auch einen Blick auf die MRT-Aufnahmen werfen können. Links die neuen Bilder, rechts das vom letzten MRT vor drei Monaten. Man sieht auf der aktuellen Aufnahme eine deutlich verringerte Aufnahme des Kontrastmittels in der Region im Stammhirn, in der der Tumor sitzt.

    Zwischen den zwei Aufnahmen liegt Titiens zweite Strahlentherapie und drei Runden mit Avastin. Liegt die geringere Aufnahme des Kontrastmittels daran, dass die Strahlen Tumorgewebe zerstört haben? Oder daran, dass durch das Avastin keine neuen Blutgefäße mehr in ihr Glioblastom einsprießen? Dadurch hätten die Tumorzellen weniger Sauerstoff zur Verfügung und würden sich langsamer teilen. Oder ist es ein Avastin-Artefakt: Durch weniger Blutgefäße käme auch das Kontrastmittel nicht mehr in der gleichen Zeit und Menge beim Tumor an.

    Vielleicht ist es eine Kombination aus allen drei Aspekten. Wir sind vorgestern jedenfalls mit sehr guter Laune nach dem Termin wieder nach Hause gefahren.

    Es gibt übrigens noch keine Neuigkeiten von der Krankenkasse. Unser Antrag auf Kostenübernahme der Avastin-Behandlung wurde ja abgelehnt und wir haben Widerspruch dagegen eingelegt.

    Bei einer offensichtlich wirksamen Krebsbehandlung ziert sich die Krankenkasse, homöopathische Mittel und anthroposophische „Medikamente“ werden aber erstattet.

  • Avastin abgelehnt – wir legen Widerspruch ein

    Avastin abgelehnt – wir legen Widerspruch ein

    Wir sind am Ende der offiziell zugelassenen Therapiemöglichkeiten für Titiens Glioblastom angekommen. Es sind trotzdem noch Pfeile im Köcher. Medikamente für den sogenannten Off-Label-Use. Diese Medikamente haben in klinischen Studien zwar eine gewisse Wirksamkeit gezeigt, sie werden von den Krankenkassen aber nicht ohne Weiteres erstattet.

    Unser nächster Pfeil heißt Avastin, oder auch Bevacizumab. Avastin ist ein Antikörper, der spezifisch den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor VEGF hemmt, und so verhindert, dass neue Blutgefäße wachsen. Wachsende Tumore brauchen Sauerstoff, und der wird über neue Blutgefäße angeliefert. Wenn keine neuen Blutgefäße mehr gebildet werden, kommt beim Tumor zu wenig Sauerstoff an, was zumindest das Wachstum der Tumorzellen verlangsamen sollte.

    Avastin wird bei verschiedenen Tumorarten therapeutisch eingesetzt. Es gibt auch belastbare Daten, dass nachdem die zugelassenen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind, Avastin bei Glioblastomen lebensverlängernd wirkt und mehrere Monate der Tumor nicht weiter wächst. Zum Beispiel hier und hier.

    Nachdem Titiens zweite Strahlentherapie abgeschlossen ist, wollen wir möglichst zügig mit der Avastin-Therapie anfangen, idealerweise bevor der bestrahlte Tumor in Titiens Stammhirn weiter wächst.

    Gefangen zwischen Krankenversicherung und Medizinischem Dienst

    Unsere Onkologin schreibt einen Antrag für den Off-Label-Use von Avastin an unserer Krankenkasse. Die Krankenkasse leitet die Anfrage an den Medizinischen Dienst in Karlsruhe weiter.

    Der Medizinische Dienst lässt sich eine Woche Zeit, um festzustellen, dass der Antrag der Krankenkasse unvollständig war und meldet dies der Krankenkasse. Die Krankenkasse reicht den vollständigen Antrag nach.

    Der medizinische Dienst prüft, erstellt ein Gutachten und schickt die Entscheidung an die Krankenkasse. Die Krankenkasse schreibt uns einen Brief mit dem Gutachten.

    Die Krankenkasse teilt uns in dem Brief mit, dass sie basierend auf dem Gutachten des medizinischen Dienstes, die Erstattung der Therapie mit Avastin ablehnen. Der medizinische Dienst argumentiert in seinem Gutachten mit Daten von 2009.

    Wir und unsere Onkologin legen Widerspruch gegen die Entscheidung ein, und hoffen, dass sich die Krankenkasse eines besseren besinnt. Rechtlich gebunden ist sie nicht an das Gutachten des Medizinischen Dienstes.

    Die Krankenkasse schreibt uns, dass sie nicht alleine entscheiden kann, und unsere Unterlagen an den Medizinischen Dienst weiter leitet. Es kommt uns vor, als ginge es um das Schinden von Zeit. Nicht dass meine todkranke Frau viel davon übrig hätte.

    Wir wollen nicht auf das Ergebnis der Entscheidung warten. Die administrativen Mühlen mahlen langsamer als der Tumor wächst. Titien hat mit der Avastin-Therapie angefangen. Alle zwei Wochen für ein paar Stunden ambulant in der Tagesklinik per Infusion. Wir warten auf die Rechnungen, die wir einstweilen privat übernehmen müssen.

  • Das Glioblastom kommt zurück – zweites Rezidiv, zweite Strahlentherapie

    Das Glioblastom kommt zurück – zweites Rezidiv, zweite Strahlentherapie

    Nachdem klar ist, dass Titiens Tumor weiter wächst, überlegen wir mit unserer Onkologin, was ihr am meisten lebenswerte Zeit verschaffen würde. Wir einigen uns darauf, es erneut mit einer Strahlentherapie zu versuchen. Wir haben beide Respekt vor den möglichen Nebenwirkungen.

    Beim ersten Mal musste Titien vorzeitig abbrechen, war danach an den Rollstuhl gebunden und ihr Temperaturempfinden war so stark gestört, dass sie im Hochsommer mit Wollsocken, im Jogginganzug unter der Daunendecke im Bett immer noch gefroren hatte.

    Die Radiologie liegt neben der neuroonkologischen Station, auf der Titien nach ihrer Biopsie lag. Wir kennen die Wege und wir kennen die meisten Schwestern und Ärztinnen. Und sie erinnern sich an uns.

    Die Radiologin spricht die Nebenwirkungen der Photonentherapie mit uns durch und macht uns Mut. Insgesamt soll Titien mit 30 Gray bestrahlt werden. 15 Mal zwei Gray. Diesmal ohne Sicherheitssaum. Es ist eine palliative Therapie.

    Titien wartet vor der Radiologie auf ihren Bestrahlungstermin

    Vor der ersten Bestrahlung wird ein Planungs-CT angefertigt und wieder eine Maske an Titiens Kopf angepasst, um sicher zu stellen, dass die Strahlen auch nur dort wirken wo sie sollen.

    Wir haben die Weihnachtefeiertage für uns und direkt am 27.12. geht es los. Jeden Werktag bis Mitte Januar. Wir fahren mit dem Auto zur Klinik, gehen langsam zur Radiologie, wir warten bis sie aufgerufen wird, zehn Minuten später sind wir auf dem Weg nach Hause.

    Titien übersteht alles soweit gut. Das Kortison hält die Nebenwirkungen in Schach. Zum Abschied bringen wir den Schwestern und den Ärztinnen eine Zwölferbox Donuts vorbei und nehmen ihre Maske als Andenken mit.

    Das städtische Krankenhaus in Karlsruhe.
  • Wer abends durch das Twankenhaus schlendert

    Wer abends durch das Twankenhaus schlendert

    Wir sind bei unserer Hausärztin zum Blut abnehmen. Titien wird aufgerufen, wir gehen zusammen mit der Pflegerin, die immer Titien Vene trifft, ins Behandlungszimmer. Sie schließt die Türe hinter uns, atmet durch, und dann bricht es aus ihr heraus:

    Die Praxis sei chronisch unterbesetzt, aber sie würden keine geeigneten zusätzlichen Krankenpflegekräfte finden. Was kein Wunder wäre, da das Gehalt schlecht sei und die Arbeit anspruchsvoll und anstrengend. Eine angelernte Fachkraft, die am Flughafen Passagiere abtastet, verdiene deutlich mehr als sie. Sie würde sich überlegen, etwas ganz anderes zu machen.

    Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, außer ihr zu sagen, dass wir ihr sehr dankbar sind für das was sie leistet. Wir sind allen dankbar, die an Titiens Behandlung beteiligt sind. Unserer Hausärztin, unserer Onkologin, außerdem allen Ärztinnen, Ärzten, Pflegerinnen und Pfleger, die in der Radiologie, in der onkologischen Tagesklinik, und auf der neuroonkologischen Station arbeiten, auf der Titien ja lange stationär behandelt wurde.

    Auch wenn wir selbst glücklicherweise fast durchweg gute Erfahrungen mit dem medizinischen Personal gemacht haben, so lassen meine Eindrücke während der vielen Stunden in Wartezimmern und vor Terminen doch einen Schluss zu: Das Gesundheitswesen ist auf Kante genäht.

    Meine Eindrücke werden nicht nur von der Pflegerin bestätigt, die uns ihr Leid beim Blut abnehmen klagte. Es gibt zunehmend Stimmen von Personen aus dem Gesundheitswesen, die ungeschönt die Arbeitsbedingungen schildern.

    https://twitter.com/MuellerLiesche/status/884826211393908736

    Zum Beispiel veröffentlich eine Ärztin unter dem Psedonym Lieschen Müller in ihrem Blog Interviews mit Ärztinnen mit Kind. Es sind inzwischen gut 30, die sich alle lohnen zu lesen.

    Es bleibt nicht beim Klagen über die Arbeitsbedingungen. Der Twitter-Hashtag #Twankenhaus wird vor allem von Ärztinnen und Ärzten benutzt, um ein oft utopisch klingendes Bild vom perfekten Gesundheitswesen zu beschreiben.

    Die Tweets unter dem Hashtag legen die Missstände im aktuellen System offen – und liefern gleich die Antworten mit, was besser gemacht werden könnte. Die Ärztin Schwesterfraudoktor hat in ihrem Blog vor drei Wochen das Twitter-Phänomen näher beschrieben:

    Warum das Twankenhaus? Die Antwort ist so einfach wie simpel: Weil das Arbeiten in unserem aktuellen System keinen Spaß mehr macht. Und Menschenleben gefährdet. 

    Aus: Wir wollen das Twankenhaus von Schwesterfraudoktor

    Den Twitter-Account @Twankenhaus gibt es noch keine drei Monate. Er hat schon knapp 4000 Follower. Seit ein paar Tagen gibt es ein neues Logo. Es tut sich was. Die Personen hinter dem @Twankenhaus schreiben: Auch hinter den Kulissen arbeiten wir an der Ausformulierung unsrer Ziele und Forderungen. Einige davon sind im Artikel von Schwesterfraudoktor schon vorformuliert.

    Ich wünsche mir, dass die Gespräche hinter den Kulissen etwas verändern. Zum Wohl der Ärztinnen und Ärzte, der Pflegerinnen und Pfleger, der Patientinnen und deren Angehöriger.

    https://twitter.com/twankenhaus/status/1101207120249270273
  • Momente ohne Hoffnung nach dem MRT

    Momente ohne Hoffnung nach dem MRT

    Das MRT bestätigt was Titien spürt. Der Tumor in ihrem Kopf wächst wieder. Sie ist unsicherer auf den Beinen, als wir den Termin in der Klinik haben.

    Wir füllen, wie jedes Mal, den Aufklärungsbogen aus. Ihr wird ein Kontrastmittel gespritzt, sie legt sich in das Gerät, und eine halbe Stunde später sind wir auf dem Weg nach Hause. Der Termin für die Besprechung der Ergebnisse ist in der Folgewoche.

    Wir sitzen bei unserer Onkologin im Arztzimmer und berichten von den veränderten Symptomen. Neben der Unsicherheit beim Gehen hat Titien das Gefühl undeutlicher zu sprechen und zunehmend weniger Kraft im rechten Arm. Außerdem berichtet sie von Druck im Kopf und von gelegentlichen Lachanfällen.

    Titien wird untersucht und wir bekommen das Ergebnis des MRTs mitgeteilt. Man sieht einen Unterschied zum letzten MRT auf den Bildern. Sowohl in der Größe des Tumors als auch in der Intensität des aufgenommen Kontrastmittels.

    Obwohl wir das geahnt haben trifft uns das Ergebnis. Titien weint, mir bricht die Stimme und ich glaube, auch unsere Onkologin hat gerötete Augen.

    Wir besprechen weitere Therpiemöglichkeiten. Erneute Bestrahlung, Avastin, oder vielleicht an einer klinischen Studie teilnehmen? Vielleicht wissen die am NCT in Heidelberg noch weiter? Wirkliche Hoffnung haben wir in diesem Moment keine.