Schlagwort: Tod

  • Lars Vogt ist tot

    Lars Vogt ist tot

    Am 29. Mai 2022 fand im Konzerthaus hier in Karlsruhe ein Konzert statt. Brahms 2. Klavierkonzert Op. 83 und Schumann 2. Symphonie Op. 61. Der Solist war Lars Vogt.

    Kurz bevor das Konzert anfing, ich saß schon auf meinem Sitzplatz, wurde die Bühne umgebaut. Der Flügel wurde in der Mitte der Bühne geschoben, und so gedreht, dass Lars Vogt mit dem Rücken zum Publikum sitzen würde. Dann wurde der Deckel des Flügels entfernt, so dass Vogt freien Blick auf das Orchester hatte.

    Der Grund wurde uns vom Veranstalter direkt vor Beginn des Konzertes mitgeteilt: Mario Venzago, der designierte Dirigent, sei unpässlich. Stattdessen würde Lars Vogt nicht nur Solist beim Brahms Klavierkonzert sein, sondern auch dirigieren.

    Die Schumann Symphonie würde er dann auch übernehmen, sollte Venzago sich weiter nicht gut fühlen. So kam es dann auch, und es war keinesfalls beunruhigend, denn Vogt war sozusagen im Zweitberuf Dirigent.

    Das Konzert in Karlsruhe war wunderbar. Bei mir und bestimmt auch bei anderen eingeweihten Zuhörern schwang aber Wehmut mit an dem Abend.

    Vogt wurde Anfang 2021 mit Speiseröhrenkrebs diagnostiziert. Mit Lebermetastasen. Bereits im Spätstadium. Er hatte seine Krebserkrankung öffentlich gemacht, hier ein ergreifendes, ehrliches, reflektiertes Interview mit ihm.

    Lars Vogt ist heute, am 5. September 2022, gestorben.

  • Leider nur ein kurzer Sommer

    Leider nur ein kurzer Sommer

    Heute jährt sich Titiens Todestag zum zweiten Mal. Rein zufällig hatte ich heute einen Arzttermin zum Checkup. Alles ist ok, der eine Polyp ist nicht weiter gewachsen, der eine Leberwert spinnt immer noch, obwohl ich sehr wenig Alkohol trinke.

    Die Ärztin, unsere Ärztin, die heute die Ultraschalluntersuchung meiner Bauchorgane durchgeführt hat, war die Ärztin, die heute vor zwei Jahren bei uns zu Hause war und den Totenschein für Titien ausgestellt hat.

    Ich habe sie nicht daran erinnert. Ich hatte heute früh schon geheult, als ich mit Titiens Bruder telefonierte.

    Ich bin weiterhin etwa zwei Mal im Monat beim Baum unter dem Titien neben meinen Eltern begraben liegt. Die Trockenheit macht der großen Buche ganz schön zu schaffen. Die Blätter sind braun und fallen, die Krone ist fast kahl. Ich hoffe, sie kommt durch.

    Ein kurzer Sommer für den Baum. Wie der von Titien.

    Sonst geht es mir gut. Irgendwo habe ich mal gelesen, Trauer würde mir der Zeit nicht weniger, aber das Leben würde darum wachsen. So fühlt es sich in etwa an.

    Ich bin im August in Karlsruhe geblieben und arbeite im Büro. Es ist weniger los und ich kann mich auf das konzentrieren, was sonst immer liegen bleibt. Ich habe dann im Herbst Urlaub. Barcelona, Wien, und noch mal Barcelona.

    Mitte Juli war ich in Piräus mit Lena und Katrin, zwei Freundinnen von Titien. Katrin wohnt da mit Manuel. Wir waren im Meer schwimmen, segeln, bei einem Konzert der Gruppe Moderat in einem antiken Amphitheater und haben die Insel Aegina erkundet.

    Mitte Juni war ich mit Ashley und Kayan, auch zwei Freundinnen von Titien, in Basel. Bei 38 Grad mit Schwimmsack zwei Kilometer den Rhein runter treiben lassen. Das Leben wächst darum.

    Ich mache mir ab und zu Gedanken, wie ich WeiterGen weiter schreiben soll. Aus einem Wissenschaftsblog ist ein Tagebuch des Lebens von Titien und mir mit ihrer Krankheit geworden und daraus ein Trauerblog nach Titiens Tod.

    Ich glaube irgendwann muss es einfach mit was ganz Trivialem hier weitergen.

  • Wie geht das Hier und Jetzt?

    Wie geht das Hier und Jetzt?

    Titien und ich haben ein Mantra, dem wir mindestens seit der Diagnose folgen: Lebe im Hier und Jetzt. Was sich wie eine abgedroschene Floskel der Ratgeberliteratur Bereich Lebenshilfe anhört, hat für uns tatsächlich Bedeutung. Wir haben erkannt, wie wertvoll die Zeit ist, die uns bleibt. 

    Wir haben bewusst Entscheidungen getroffen, die Zeit nicht damit zu verbringen über die Vergangenheit nachzudenken. Oder über den hypothetischen Fall, dass Titien nicht mit DIPG diagnostiziert worden wäre.

    Genauso wenig lohnt es sich, weit in die Zukunft zu denken, wenn die Prognose maximal zwei Jahre lautet. Wenn wir Ziele hatten, dann kurz- bis maximal mittelfristig.

    Noch einmal Weihnachten feiern. Den Besuch der Familie in Korea noch erleben. Die Freundinnen in Barcelona treffen. Israel noch sehen. Haben wir alles geschafft. Das letzte Ziel war, Titiens Geburtstag am 24. Juni. Jetzt setzen wir keine Ziele mehr. 

    Aber wie leben wir im Hier und Jetzt? Vor eineinhalb Jahren habe ich das so fomuliert:

    „Das eine Extrem ist, jeden Tag zu leben als wäre es der letzte. Das andere Extrem ist, die Krankheit zu ignorieren und so weiter zu machen, als wenn nichts wäre. Mein dritter Weg ist pragmatisch, reflektiert. Ich nehme unsere gemeinsame Zeit sehr viel bewusster war. Alles bekommt eine Bedeutung. Ihr dritter Weg ist spirituell. Sie liest in der Bibel und schreibt über ihren Glauben.“

    Jetzt, da ihr immer weniger Zeit bleibt, weiß ich nicht mehr genau, was das heißt, gemeinsam im Hier und Jetzt zu leben. Bin ich nicht genug für sie da, wenn ich tags Projektbesprechungen über Zoom habe und an Texten für kurze Filme über Wissenschaftskommunikation arbeite?

    Verschwende ich unsere gemeinsame Zeit, wenn ich mit meinem Handy am Frühstückstisch rumspiele? Oder wenn ich über Kopfhörer Podcasts höre? Oder ist das der Ausgleich, den ich brauche, um nicht depressiv oder irre zu werden?

    Wird die Zeit immer wertvoller, je weniger man davon hat, oder bleibt der Wert der Zeit gleich, und man erkennt ihn, wenn einem einmal die Endlichkeit bewusst wird?

    Als ich meine Mutter ihre letzten anderthalb Jahre mit Bauchspeicheldrüsenkrebs pflegte, hatte ich lange vor ihrem Tod ein rettendes Ufer vor Augen. Ich konnte mir ausmalen, was danach passieren würde, was wir Brüder mit dem Haus machen, dass ich nach Karlsruhe ziehen würde.

    Jetzt bei Titien sehe ich kein Land. Im Hier und Jetzt gibts nur Wasser. Ich merke, wie die Welle sich hinter mir aufbaut. Irgendwann bricht sie, und dann werde ich irgendwo an Land gespült. Ich bin ein guter Schwimmer.