Kategorie: Technik

  • Kann man die Tour de France auch ohne Doping gewinnen?

    Kann man die Tour de France auch ohne Doping gewinnen?

    Lance Armstrong hat vor fünf Tagen im Freakonomics-Podcast auf die Frage des Journalisten und Podcast-Gastgebers Stephen Dubner “Do you think you could have won any Tours de France without doping?” (min 13:15) geantwortet: “Zero percent chance”
    Das klingt nach einem Offenbarungseid für den Sport, der immer noch Millionen Zuschauer vor den Fernseher oder direkt an die Strecke lockt. 
    Lance Armstrongs letzter Toursieg liegt 13 Jahr zurück, meine letzten Artikel zur Tour de France fünf Jahre. Zeit für ein Update. Kann man die Tour de France auch ohne Doping gewinnen?
    Armstrong bezieht die 0% Chance auf einen cleanen Tourgewinn auf das damalige Tourumfeld. Damals wurde systematisch und im gesamten Fahrerfeld gedopt. In den Top10 des Gesamtklassements von 2005 gibt es beispielsweise nicht einen Fahrer, der nicht nachgewiesenermaßen gedopt hat, bei Dopingärzten in Behandlung war, Dopingtests umgangen hat, dem Doping konkret vorgeworfen wurde oder der selbst zugegeben hat, gedopt zu haben.
    Wie sieht die Situation also heute aus? Zunächst: Kategorisch ausschließen, dass Fahrer auch dieses Jahr gedopt waren, kann wohl keiner. Um einen generellen Eindruck von der Sauberkeit der Tour zu bekommen, kann man sich aber die Leistungsdaten der Spitzenfahrer anschauen und prüfen, ob diese plausibel erreichbar sind. Plausibel heißt konkret: Wie viel Watt pro kg Körpergewicht Leistung bringen die Fahrer? Und sind diese Leistungen mit modernen Trainingsmethoden erreichbar?

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    Peter Sturm. Autor des Gastartikels.

    Das kann Peter Sturm (Pseudonym) deutlich besser als ich. Deshalb hier sein zweiter Gastartikel bei WeiterGen. Peter Sturm ist Trainingsmethodiker. In den letzten 5 Jahren trainierte er bis zu 200 engagierte und erfahrene Sportler. Sein Trainingssystem erscheint in Kürze in Buchform. Sturm ist Trainer der Nachwuchshoffnung Jonas Rapp, der seit diesem Jahr für das österreichische UCI Continental Team Hrinkow Advarics startet und bei der diesjährigen internationalen Österreichrundfahrt gesamt zwölfter wurde.
    —Gastartikel—
     

    Kann man die Tour de France auch ohne Doping gewinnen?

    Das Thema ist auch fünf Jahre später noch aktuell. Aus meiner Sicht eindeutig ja. Wir schauen uns im Folgenden die Leistungsanforderungen an den potentiellen Toursieger 2018 an und ich zeige Ihnen anhand von tatsächlichen Trainingsdaten die Leistungsentwicklung von Jonas Rapp, der sich durch gezieltes Training vom Niveau eines A-Fahrers (Höchste deutsche Amateurklasse) zu einem möglichen Weltklasseprofi in der Kategorie Rundfahrer (vs. Allrounder, Sprinter) entwickelt hat. Um die Daten des Sportlers vergleichend zu analysieren, rechne ich die Leistungen bei der diesjährigen Tour auf sein RACE Gewicht von 71kg um.

    Die Leistungsanalyse bei schweren Bergen auf der Tour

    Am Mittwoch stand eine Bergetappe über gerade mal 65km mit 3000 Höhenmetern auf dem Programm. Auf Strava haben schon einige Sportler ihre Daten hochgeladen (leider z.T. ohne Wattangaben) und wir können die Leistungen der Klassementfahrer in der Gruppe um das gelbe Trikot mit einem Leistungsrechner (wie z.B. Kreuzotter.de) nachvollziehen. Länge und Durchschnittsteigungen habe ich analog zu den Strava-Segmenten einbezogen.

    Nach dem Start ging es sofort in den Col de Peyresourde. Das Strava-Segment über 12,93km mit einer mittleren Steigung von 7,146% bedeutet für einen 71 kg schweren Fahrer mit 8 kg Ausrüstung, er müsste rechnerisch 385 Watt oder 5,36 W/kg leisten, um den Anstieg in der Gruppe der Spitzenfahrer zu absolvieren (37 min und 17 sek). Im Windschatten der Gruppe und mit besten Material (Reifen, Trikots etc.) können das aber auch nur 360 Watt und ca. 5,07 W/kg gewesen sein.
    Simon Geschke hat seine Wattdaten bei Strava hochgeladen und brauchte in einer Fluchtgruppe für 35min und 20 Sek. 348 Watt und somit bei einem Gewicht von 63 kg 5,53 W/kg. Hier errechnet Kreuzotter ca. 377 und somit 5,89 W/kg. Die Berechnung der Wattwerte nur anhand der physikalischen Werte, wie Gewicht von Fahrer und Ausrüstung, kann die tatsächliche Leistung (gerade in einer Gruppe) deutlich überschätzen. Je geringer die Steigung (und je höher die Geschwindigkeit), desto mehr profitieren die Fahrer vom Windschatten in einer Gruppe.
    Am zweiten Berg, dem Col de Val Louran-Azet wurde das Tempo dann in der Gruppe um das gelbe Trikot deutlich angezogen. Das Team AG2R und später auch Team Movistar sorgten mit ihren Helfern für eine Tempoverschärfung. Das mir vorliegende Stravasegment über 7,14km mit 8,29% führt Michal Kwiatkowski mit 20:58 an. Die Tempoverschärfung hat kurzfristig die sonst sehr geordneten Fahrer des Teams Sky ordentlich durcheinandergewirbelt.
    Für unseren 71 kg Fahrer errechnen wir 428 Watt oder 6,03 W/kg. Tatsächlich können es aber auch nur 408 Watt und 5,74 W/kg für den im Windschatten geschützten Fahrer in der Gruppe gewesen sein. Wir können aber davon ausgehen, dass während der Tempoverschärfung zumindest der Fahrer an der Spitze z.B. 6,1-6,2 W/kg gefahren ist. Das Tempo war zeitweilig so hoch, dass zumindest einige Helfer über ihrem Limit waren. Das war im Fernsehen sehr gut sehen. Dieser Gruppe gehörten am Ende noch ca. 15-20 Fahrer an, wobei einige Fahrer vorher in Fluchtgruppen unterwegs waren und im Anstieg aufgesammelt wurden.
    Den Schlussanstieg am Col du Portet habe ich handgestoppt und mir Zeiten für den Sieger Quintana von 49:39 und für das Gelbe Trikot von 50:25 notiert. Quintana mit 50kg leistete rechnerisch 312 Watt und somit 6,24 W/kg. Unser 71kg Fahrer würde hierfür 418 Watt und 5,88 W/kg benötigen. Die 8 kg Ausrüstung benachteiligen folglich den leichten Fahrer. Real wird die Leistung von Quintana vielleicht bei 6,0 W/kg gelegen haben. In der Gruppe um das gelbe Trikot hätte unser 71kg Fahrer rechnerisch 410 Watt leisten müssen und somit also 5,77 W/kg. Tatsächlich können es auch 390 Watt mit 5,5 W/kg gewesen sein.
    Ohne die genauen Wattangaben und ohne Angaben zum Gewicht des Fahrers sind wir auf Hochrechnungen angewiesen und müssen von den physikalischen Berechnungen einen Abzug für Windschatten/Material etc. machen. Hier wäre es sicherlich für die Transparenz eines sauberen Sports sicherlich wünschenswert, wenn alle Fahrer ihre Daten auf eine Plattform wie Strava hochladen würden.
    Die Etappe nach Alpe d Huez war deutlich länger und führte vor dem Schlussanstieg über zwei hohe und lange Berge. Der Schlussanstieg nach Alp d’Huez wurde handgestoppt in 41:10 gefahren und unser 71kg Fahrer hätte hierfür rechnerisch 410 Watt benötigt. Die relative Leistung von 5,77 W/kg (ohne Fehlerabzug) sollte man hier in die Gesamtbelastung der Etappe einordnen.

    Auf dieser Etappe nach Alpe d Huez) hätte der 71kg Fahrer rechnerisch ca. 2600 kcal allein an den ersten beiden Anstiegen benötigt. Die relative Leistung am Col de la Madeleine betrug ca. 5 W/kg für 1h und 8 Minuten. Am Croix de Fer waren es noch 4,6 W/kg für eine Stunde. Die Profile waren flacher, der Windschatten müsste also noch berücksichtig werden, ein Abzug von 200 kcal und somit ein Energieverbrauch von 2.400 kcal bildet die Belastung vermutlich besser ab. Ein Fahrer wie Quintana spart hier durch sein geringes Körpergewicht ca. 750 kcal im Anstieg dieser beiden Berge gegenüber seinen 20 kg schweren Konkurrenten ein. Das entspricht 183 gr. Glykogen.
    Wenn man berücksichtigt, dass Sportler maximal 700 gr. Glykogen in der Muskulatur und Leber speichern können, sind 183 gr. Ersparnis natürlich relevant. Quintana hat auf der Kopfsteinpflasteretappe am Ende der ersten Woche gegenüber seinen Konkurrenten keine Zeit verloren, aber wir dürfen davon ausgehen, dass er viel Substanz eingebüßt hat. Ein leichter Fahrer hat auf schnell gefahren und windanfälligen Etappen deutliche Nachteile. Während unser 71kg Fahrer 330 Watt noch im Grundlagenbereich fahren kann, wird unser Bergfloh hier schon stark gefordert.
    Wir können also unterstellen, dass bei gleicher relativer Leistung, der schwerere Fahrer bei dieser Tour frischer in die zweite Woche gegangen ist, als sein leichtgewichtigerer Konkurrent. Quintanas Leistung am Mittwoch deutet darauf hin, dass leichtere Fahrer dann in den Bergen insgesamt weniger belastet sind (Energieverbrauch) und so eher noch am Schlussanstieg ihre Leistungen abrufen können. Das ist natürlich spekulativ und lässt das Rennprogramm außen vor; Froome und Dumoulin sind den Giro d‘ Italia gefahren, Quintana und Thomas nicht. Am Freitag bei der letzten Bergetappe büßte Quintana Zeit ein. Der Einbruch kann auf einen Infekt oder zum Beispiel eine Magenverstimmung hindeuten. Die dritte Woche einer Grandtour führt alle Fahrer an ihre Grenzen und ob ein Fahrer dann von Tag zu Tag die Leistung halten kann, zeigt sich erst in der Rundfahrt.
    Welche Rückschlüsse lassen sich ziehen? Die Spitzenfahrer müssen auch noch nach langen harten Etappen in der Lage sein ca. 5,6-5,7 W/kg am Schlussanstieg abrufen zu können. Auf kürzeren harten Etappen können das am Schlussanstieg auch 6,0 W/kg sein. Leichte Fahrer müssen bis zu 0,35 W/kg mehr leisten können als Fahrer, die 20 kg schwerer sind. Dafür benötigt der schwerere Fahrer aber auch ca. 100 Watt mehr Leistung (ungefähr 360 kcal/h).
    Wir sehen, die Konkurrenz einer Tour ist äußerst komplex. Die Ergebnisse der letzten Jahre beim Giro und der Tour deuten darauf hin, dass Rundfahrer wie Dumoulin oder Froome mit Körpergewichten leicht unter 70 kg zumindest nicht benachteiligt sind.
    <h2>Die Anforderungen an die Fahrer</h2>
    Der Sportler benötigt eine hohe maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) bezogen auf sein Körpergewicht und muss durch Training einen möglichst hohen Anteil der VO2max in Zeiträumen von 5-60 Minuten abrufen können, also der Dauer der Anstiege bei der Tour de France. Um das auch im späteren Verlauf einer Etappe zu können, sollte der Fettstoffwechsel des Sportlers möglichst gut trainiert sein, um die Glykogenspeicher der Muskulatur zu schonen.
    Die VO2max, die Dauerleistungsschwelle (CP, MLSS) und der Fettstoffwechsel stehen also im Fokus des Trainings für Fahrer, die sich auf Rundfahrten oder schwere Eintagesrennen vorbereiten.
    Nun kenne ich nicht im Detail das Training von Froome, Dumoulin, oder Thomas. Ich trainiere aber seit Januar 2015 das Nachwuchstalent Jonas Rapp. Jonas konnte in dieser Zeit seine Stundenleistung von 330 Watt auf 430-440 Watt steigern. An seinem Beispiel möchte ich zeigen, wie das Training eines Rundfahrers aussehen kann, um in der Spitzengruppe mithalten zu können. Jonas hat bei einem Gewicht von 72kg einen Körperfettanteil von über 10%. Sein Wettkampfgewicht ohne Leistungsverlust (Körperfettanteil von 8%) könnte also mit 70,4 kg angenommen werden. Er entspricht damit ziemlich genau unserem Vergleichsfahrer mit 71 kg Körpergewicht.
    <h3><b>Anforderungen an den Fettstoffwechsel</b></h3>
    Kommen wir zurück auf die 2400 kcal (nach Fehlerabzug), die ein 71 kg Fahrer allein auf den ersten beiden Anstiegen der Etappe nach Alpe d‘ Huez verbrennt. In Studien wird die Fettflussrate von Ausdauersportlern in Abhängigkeit zu ihrer VO2max dargestellt. Je nach Trainingszustand kann die Fettflussrate ihr Maximum zwischen 65-70% der VO2max erreichen. Nehmen wir an, unser 71 kg Fahrer hat im Bereich von 350 Watt einen Anteil der Fette am Energieverbrauch von 45%, dann muss er 61 g aus seinen Speichern pro Stunde zusteuern. Er hätte also ca. 120 g für die ersten beiden Anstiege aus seinen Speichern gezogen.
    Im Rechner unterstelle ich bei hochtrainierten Sportlern eine Effizienz von 25% und nehme hier mal an, der Sportler hat seine Kohlenhydrataufnahmefähigkeit auf 100 g pro Stunde maximieren können. 80 g pro h im Mix von Fructose mit kurz und langkettigen KH gelten als gesichert für jedermann. Die Fettflussrate von 0,97 g/min zeigt uns, dass der Fettstoffwechsel hier schon auf hohem Niveau läuft. Mit 350 Watt liegt die Leistung genau zwischen 65% und 75% der VO2max. Ein Bereich, in dem der Fettstoffwechsel noch maßgebliche Anteile zur Leistung beisteuern kann.
    Wir sehen also, die 750 kcal, die Quintana durch sein geringes Gewicht rechnerisch weniger verbraucht, kann der schwerere Fahrer kompensieren, wenn er über einen guten Fettstoffwechsel im Bereich um 5 W/kg verfügt. Der schwere Fahrer wird tendenziell mehr Glykogen (da mehr Muskelmasse) einlagern können als der leichtere Fahrer und würde hier den Vorteil des leichteren Fahrers wieder teilweise ausgleichen können.

    Intensives Fettstoffwechseltraining

    Jonas typische Trainingseinheiten beinhalten z.B. 3x15min mit 370-380 Watt und am Ende (jenseits von 3000 kcal) noch 10-12 min Intervalle um 410-420 Watt. Eine andere Einheit stellt die 430 Watt Intervalle nach vorn und erst am Ende sind die längeren 380 Intervalle zu fahren. Obige Einheit ist Jonas am 28.6 gefahren. Er startete mit 2×10 min mit einer Anfangsleistung von 500 Watt für die ersten zwei Minuten und sollte dann spielerisch in den „Streckenschlag“ gehen. In den folgenden 2x12min hat er Tempoerhöhungen über die Trittfrequenz und 6 Sekundensprints eingebaut. In der zweiten Hälfte kamen noch 3x15min um 380 Watt hinzu.

    Am 21.6. fuhr Jonas die Einheit anders rum. Zuerst die 370-380 Watt Intervalle und dann Intervalle um 410 Watt gegen Ende der Einheit mit schon gut geleerten Glykogenspeichern. Wir sehen, dass die 410 Watt über 24 min ihn ca. 600 kcal gekostet haben. Er hat hier seine Speicher schon fast leergefahren und musste dann das letzte Intervall frühzeitig abbrechen, um nicht komplett leer zu fahren.

    410 Watt in der letzten Stunde einer 4 Stunden Einheit zu fahren, ist natürlich anspruchsvoll. Auch für den Kopf des Sportlers ist es gut, die Einheiten dann auch mal wieder umzudrehen und die härteren Intervalle am Anfang mit noch vollen Speichern zu fahren.
    Wir zielen hier genau auf den Fettstoffwechsel zwischen 380 und 420 Watt und setzen mit dem Wettkampfgel Reize auf den Kohlenhydratstoffwechsel, den Fettstoffwechsel und die Größe seiner Glykogenspeicher. Wir trainieren also aktuell schon seine Fähigkeit auch am Ende einer langen Trainingseinheit mit deutlich reduzierten Speichern Leistungen um 5,7-5,9 W/kg abzurufen.

    VO2max Training

    Das Vo2max Training wird in vielen Studien unter dem Begriff „High Intensity Training“ untersucht. Im Prinzip kann eine Einheit die relative Vo2max um einen halben Punkt erhöhen. Theoretisch. Im Radsport wurde der Bereich für das Vo2max Training vor 5 Jahren noch mit 105-120% der FTP (Stundenleistung) angegeben. Läufer hatten für dieses Training schon seit Jahrzehnten genaue Tempotabellen, die sich z.B. an ihrer 10.000 Meter Zeit orientierten.
    VO2max Training kann nur dann in der Mehrjahresperiodisierung erfolgreich umgesetzt werden, wenn eine exakte Belastungssteuerung erfolgt und der Sportler mitdenkt. Hottenrott zeigte 2012 mit einer groß angelegten Studie mit über 750 Breitensportlern, dass Vo2max Training zum größten Leistungsfortschritt führt, die Sportler aber nur bedingt über längere Zeiträume für dieses Training zu gewinnen sind.
    Man geht zum Zahnarzt, damit mit man auch morgen noch in den Apfel beißen kann. Aber der Besuch wird weh tun. So ist das auch mit dem Vo2max Training. Ich muss dieses Training als Trainer so einbinden, dass mir die Zustimmung des Sportlers oder der Sportlerin erhalten bleibt. Das kann mir nur gelingen, wenn ich dieses Training sehr genau steuere und sehr sensibel auf das Feedback des Sportlers reagiere.
    Basierend auf dem Modell von Monod-Scherrer (1965) gebe ich meinen Sportlern Tempovorgaben für die wichtigsten Intervallbereiche. Die Bereiche werden durch die CP und die W des Sportlers bestimmt. Die Stundenleistung zur Orientierung ist hier nicht zweckmäßig, weil Fahrer mit der gleichen Stundenleistung durchaus unterschiedliche anaerobe Kapazitäten haben können. Der Fahrer mit der eher hohen W wird deutlich höhere Werte im Bereich der 4 min Intervalle fahren können und muss dafür dann deutlich niedrigere Wattwerte für die 8 min Intervalle nehmen. Wenn ich herausfinden will, wie bei einem Sportler in etwa die Verteilung seiner CP/W ist, lasse ich ihn 2-3 Intervalleinheiten mit 4 und 8 Minuten Länge fahren. Zur Bestätigung dann z.B. den 12 Minutentest.
    Das Chart stützt sich auf die Zoneneinteilung nach Coggan. Den VO2max-Bereich lassen wir aber bei 105% der Critical Power beginnen und wir haben Coggans Zone 5 mit 105-120% der FTP unterteilt in die Zonen 5a-5f. Sie können hier Ihre eigenen Parameter eingeben.
    Die Sportler fahren diese Intervalle in einem Fenster von einem Verbrauch der anaeroben Kapazität von 40-60%. Ausgehend von den Beobachtungen und der Analyse von mehreren hundert Sportlern konnten wir folgern, dass der Sportler bei einem Verbrauch von ca. 55% seiner anaeroben Kapazität (W) seine Vo2max erreicht, er also unter Volllast seines aeroben Systems arbeiten muss. Die nachfolgende Darstellung zeigt wie unser aerobes System an die Vo2max geführt wird, hier in Abhängigkeit der Intensität und der Intervalllänge. Die Vorgabe im Intervall wird so gewählt, dass am Ende des ersten Intervalls ca. 55% der W verbraucht sind. Wir können also eine Intensität wählen, mit der wir die Vo2max triggern können und somit können wir auch die relative Vo2max ziemlich genau rechnerisch bestimmen

    In den Folgeintervallen erreicht der Sportler durch das Pausenregime immer früher die Vo2max. Bei 4×8 min trainiert der Sportler vielleicht 16-17 min an der Vo2max plus weitere Minuten in dem ebenfalls wirksamen Bereich von 90-100 Prozent der Vo2max. Aus den Beobachtungen wissen wir, dass Sportler, die übermotiviert diese Intervalle fahren und z.B. am Intervallende noch sprinten, deutlich längere Regenerationszeiten benötigen. Werden nun weitere Einheiten in der gleichen Trainingsphase deutlich übersteuert, kann sich ein sympathisches Übertraining etablieren. Der Fahrer „schießt sich ab“.
    Der Sportler sollte die Freigabe seines Kardiologen haben und er braucht den richtigen Tag für dieses Training und einen kühlen Kopf, um im Zweifel nach dem ersten Intervall oder nach dem Warmfahren abzubrechen, wenn das Körperfeedback dazu rät. Wenn alles passt, dann heißt es „never ever waste your hammertime“. Für die Entwicklung eines Sportlers ist diese Zone ausschlaggebend.

    Die Umsetzung der Theorie bei Jonas Rapp

    Jonas Rapp bei der Österreichrundfahrt. Bild: Reinhard Eisenbauer (http://www.eisenbauer.com)
    Talente reagieren auf so ziemlich alle Reize mit einer starken Leistungsentwicklung. Auch Jonas hatte schon eine relative VO2max von mehr als 70 als wir mit dem Training starteten. Aber um in seinen Fall von 72 auf 89 Punkte zu kommen, waren drei Jahre hartes Training erforderlich. Jonas steigerte mit Serien von 2x (3x8min) in Zone 5a seine Critical Power von 320 auf 390 im ersten Jahr. Jeder, der solche Intervalle im Training schon mal gefahren ist, weiß, wie stark man im Kopf sein muss, um nach der ersten Serie noch eine zweite Serie folgen zu lassen.
    Berücksichtigen wir, unter welchen zeitlichen Bedingungen Jonas dieses Level erreicht hat, bekommen wir einen Ausblick auf das Potential dieses Sportlers. Jonas hat Abitur gemacht und im Anschluss eine Ausbildung, die er Ende Januar 2018 abgeschlossen hat. Ich kenne viele Hobbysportler, die mehr Zeit für das Training hatten als Jonas. Er kam oft gegen 19Uhr nach Hause und hatte den ganzen Tag gestanden und konnte dann abends nicht immer die geplanten Einheiten fahren. Seine Jahreskilometer lagen in den letzten Jahren um 20.000.
    Für 2018 haben wir den Fokus darauf gerichtet, Jonas mehr Substanz für lange Rennen mitzugeben, so dass er auch am Ende einer Etappe seine Leistungen abrufen kann. Einige Einheiten habe ich euch ja schon vorgestellt. Jonas ist die Saison auf einem konstant hohen Niveau gefahren. Nach einer Erkältung in Folge einer kurzen und nasskalten Rundfahrt im Frühjahr musste er zehn Tage pausieren und konnte trotzdem nach 14 Tagen Training am 4.Tag einer Rundfahrt im Bergzeitfahren schon wieder über 25 min 441 Watt abrufen. Bei einem Bundesligarennen (!) in Österreich musste er in einer Situation 507 Watt über 5 min. aufbringen, um mit den Topfahrern nach vorn zu fahren. Wenn ich die beiden Renndaten in das Modell von Monod-Scherrer einpflege, kommt eine Stundenleistung von 430 Watt raus.
    Anfang Juli ist Jonas die internationale Österreichrundfahrt gefahren. Acht schwere Tage in Folge und wir hatten nicht wirklich erwartet, dass Jonas in der Summe nur 3 Min verliert und somit bei seiner ersten schweren Landesrundfahrt auf das Gesamtklassement fahren kann. Jonas ist zuvor nie lange Alpenpässe gefahren. Er kannte weder das Kitzbüheler Horn noch den Großglockner. Jeder Rennfahrer weiß, wie wichtig es ist, Berge vorab im Training am besten mehrmals gefahren zu sein. Leider fehlen Powermeterdaten vom Kitzbüheler Horn, weil Jonas hier mit Kompaktkurbel gefahren ist.
    Leistungsdaten von Jonas Rapp. Er ist nach fünf harten Tagen den Großglockner von unten bis oben eine Stunde mit 396 Watt gefahren. Dabei leistete er 403 Watt ab der Mautstation und auch über 2000 m Höhe noch konstant 15min mit 398 Watt. Die 408 Watt Durchschnitt in den letzten 4 Minuten zeigen, dass er sich vorsichtig gepaced hatte.
    Rennen kann man nicht am Rechner gewinnen. Aber Jonas hat bei den beiden Bergankünften gerade mal etwas mehr als eine Minute auf den führenden Fahrer verloren. Das entspricht etwa dem mitführen von 2kg Gewicht. Diese zwei kg Ersparnis wären auch dieses Jahr schon möglich gewesen (Körpergewicht/Ausrüstung).
    Jonas ist die Rundfahrt aber nicht in Topform gefahren. Nur in den großen Profiteams, können die Sportler sich auf die Saisonhöhepunkte mit längeren Trainingsblöcken und Höhentraining vorbereiten. In den UCI-Continentalteams fahren die Sportler ihren Kalender runter und müssen schauen, dass sie von Rennen zu Rennen kommen. Wenn dann noch eine Erkältung da Zwischen kommt, werden die Vorbereitungsfenster kleiner.
    Bei der Tour de France sind die Bergetappen eher länger aber es gibt selten mehr als 3 Etappen für Classementfahrer am Stück. Kürzere Etappen werden mit einer höheren Intensität gefahren. Auf den hügeligen oder flachen Etappen fahren Fahrer wie Jonas mit Leistungen, die eher im Regenerationsbereich liegen. Bei der Österreichrundfahrt hatte jede Etappe mehr als 2000 Höhenmeter und wurde hart gefahren. Vorsichtig geschätzt, liegt Jonas mögliche Topform bei optimaler Vorbereitung und mit Höhentraining bei circa 450 Watt für Zeitfenster von 20-40 Minuten.

    Welche Leistungsfähigkeit braucht ein Toursieger?

    Aus meiner Sicht braucht ein Tour de France Sieger eine relative Stundenleistung von ca. 6,3-6,5 W/kg, um in Rennen wie vergangenen Mittwoch noch am letzten Berg 6 W/kg abrufen zu können. Für den Sieg am Mittwoch hätte rein rechnerisch ein 50 kg Fahrer wie Quintana 6,24 W/kg, ein 62kg schwerer Fahrer 6,02W/kg und ein 71kg schwerer Fahrer 5,88 W/kg benötigt. 6,3 W/KG könnten also für einen 71kg Fahrer durchaus bedeuten, dass er bei einer Grandtour zumindest um das Klassement mitfahren kann.
    Die Grandtour gewinnt aber nicht unbedingt derjenige, mit dem besten relativen Leistungsgewicht, sondern der, von seinem Leistungsprofil am besten mit dem Profil der Rundfahrt harmoniert. Beim Giro gibt es viele Zeitgutschriften für kurze Schlussanstiege bei gefühlt jeder zweiten Etappe. Hier haben explosive Fahrer Vorteile. Wenn dann aber Froome mitten in einer Etappe (19.) an einem Anstieg (Col del Finestre) mit 5,9 W/kg über eine Stunde alle Verfolger abschütteln kann, sieht man, dass richtiges Training und Umsetzung gerade in der dritten Woche einer Grandtour entscheidend sein können. Froome hat sich hier von Helfern alle 1-2km Flaschen reichen lassen und nach dem Trinken fallen lassen um Gewicht zu sparen. Ein Killogramm weniger Gewicht weniger machen an so einem Berg 30 Sekunden aus. Jonas Rapp kam mit einer fast vollen Flasche am Kitzbüheler Horn an. Er (Originalton) ..hatte dann oben wenigstens schon was zu trinken.

    Kann man ohne Doping die Tour gewinnen?

    Nach 3,5 Jahren des Privilegs eines der größten deutschen Radsporttalente trainieren zu dürfen, würde ich das ganz klar mit ja beantworten. Ob Jonas die Tour gewinnen kann? Von 8 harten Tagen am Stück bei der Österreich Rundfahrt auf eine Grandtour zu schließen, ist schwierig. Wer aber auf seiner ersten schweren Landesrundfahrt nur 3 Min. auf den Sieger verliert, ist ein Rundfahrer mit Potential.
    Jonas fährt für das Team Hrinkow Advarics. Das Team hat ihn bei den Rundfahrten 2018 super unterstützt. Die Teamphilosophie steht für sauberen Radsport. Seine Leistungsentwicklung ist dokumentiert; hier gibt es nur Anpassungen an harte Reize und ein großes Talent. Anpassungen des aeroben Systems über mehrere Jahre erfordern ein Reizsystem, dass auch hochintensive Reize immer wieder in der Mehrjahresplanung berücksichtigt.
    Sind aus meiner Sicht Leistungen um 6,3-6,5 W/kg pro Stunde ohne Doping möglich? Ja, das würde ich unterstreichen. Sind alle Sportler sauber, die 6,3-6,5 W/kg leisten? Das würde ich mir wünschen. Dumoulin und Froome fahre beide das Double Giro und Tour auf hohem Niveau. Das geht nur, wenn das Basislevel sehr hoch ist und das spricht aus meiner Sicht dafür, dass der Sportler davon ausgehend in Höchstform auch Topleistungen erbringen kann – ohne Doping. Bei der Tour 2018 habe ich keine Leistungen gesehen, die man mit einem Fragezeichen versehen müsste.
    Jonas Rapp bei einer Ankunft einer Bergetappe Bild: Reinhard Eisenbauer (http://www.eisenbauer.com)

  • Papers Publizieren wie bei Game of Thrones

    Papers Publizieren wie bei Game of Thrones

    Von außen gesehen gleichen sich die Publikationsprozesse der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen. Ein Manuskript wird erstellt, die Autorenliste wird festgelegt, das Paper wird zur Veröffentlichung eingereicht, extern begutachtet, und nach eventuellen Nachbesserungen in einem Fachjournal publiziert.
    Hinter den Kulissen jedoch spielen sich beim wissenschaftlichen Publizieren häufig Dramen ab, die nicht selten Parallelen zur Game of Thrones Saga aufweisen. Diesen Vergleich zog Ana Ros Camacho, eine der Teilnehmerinnen beim Heidelberg Laureate Forum. Fakt ist: Das Publizieren von Ergebnissen ist ein wesentlicher Teil der Arbeit als Wissenschaftlerin – und abgelehnte Manuskripte, deren verzögerte Veröffentlichung oder Unstimmigkeiten beim internen Festlegen der Reihenfolge der Autoren auf dem Paper sind oft der Auslöser schlafloserer Nächte und nicht selten karrierebeeinflussend.
    Die sich abspielenden Dramen unterscheiden sich interessanterweise je nach Wissenschaftsdisziplin und spielen sich auf unterscheidlichen Schlachtfeldern ab, um bei dem Game of Thrones Vergleich zu bleiben. Günter Ziegler, Professor am Institut für Mathematik an der FU Berlin, erklärte mir, dass Manuskripte in der Mathematik häufig vorab auf arXiv veröffentlicht werden und auf Kommentare von Fachkollegen gewartet wird, bevor das Paper dann an ein Journal geschickt, und dann nach der externen Begutachtung publiziert wird. Dieser zweite, offizielle Publikationsweg dauert aber durch den sehr gewissenhaften Reviewprozess in der Mathematik zum Teil Jahre vom Zeitpunkt der Einreichung bis zur Veröffentlichung, so dass Nachwuchswissenschaftler oft wenig offiziell Publiziertes nachweisen können wenn sie sich beispielsweise auf Stellen bewerben. Die Autorenreihenfolge spielt in der Mathematik laut Ziegler übrigens keine Rolle: Es wird strikt alphabetisch sortiert.

    Jedes Jahr werden weltweit über eine Million neue begutachtete molekularbiologische und medizinische Fachartikel veröffentlicht. Die Dramen beim Publikationsprozess unterscheiden sich in diesen Disziplinen ganz erheblich von der Mathematik. Die Vorabpublikation der Manuskripte auf sogenannten pre-print Servern ist weit weniger verbreitet. Die Magazine haben in den letzten Jahren viel unternommen, um den Begutachtungsprozess zu beschleunigen, so dass inzwischen im Idealfall nur wenige Wochen vergehen, bis ein eingereichtes Manuskript publiziert werden kann.
    Die subjektiv wahrgenommene Realität aus böswilligen Gutachtern und inkompetenten Editoren ist jedoch oft eine andere. Manuskripte werden oft direkt auf editorieller Ebene abgelehnt und müssen dann mühsam für das nächste Journal umgeschrieben und umformatiert werden. Gutachter fordern aufwändige zusätzliche Experimente und Analysen, deren Sinn sich für die Autoren nur selten erschließt oder die zwar thematisch passen, aber mit der Kernaussage des Manuskripts wenig zu tun haben. Das alles kostet Zeit und verlängert die Publiktionsphase nicht selten auf rund ein Jahr vom Fertigstellen des ersten Manuskripts bis es dann tatsächlich erschient. Unterschwellig schwingt in diesem Jahr Wartezeit immer die Angst mit, dass eine konkrurrierende Gruppe vergleichbare Ergebnisse publizieren könnte, da die Daten eben vorab nicht auf einen Preprint Server gelegt wurden.

    Im Gegensatz zur alphabetischen Sortierung in Mathematik ist die Erstellung der Autorenliste im biomedizinischen Bereich ein hochpolitisches Instrument. Die Rangliste soll hier reflektieren wer wie viel zum Paper beigetragen hat. Und wer die Verantwortung trägt (und die Finanzierung beigetragen hat) steht ganz hinten. Die Positionen auf den Veröffentlichungen haben ganz konkreten Einfluss auf die weitere Karriere. Nur Erstautoren können sich auf bestimmte Stipendien bewerben und nur jenen an letzter Stelle wird der Verteilung von Antragsgeldern geglaubt, das Projekt initiiert und geleitet zu haben.
    Nur wie misst man den Beitrag der Autoren? Wie viel zählen Idee, Durchführung der Experimente, Analyse der Daten, Anfertigung der Abbildungen und das eigentliche Schreiben des Manuskripts? Spätestens bei großen kooperativen Projekten verteilt sich das auf mehrere Schultern und The Game of Thrones kann beginnen: Wer steht ganz vorne? Wer kommt direkt dahinter und bekommt möglicherweise ein Sternchen hinter den Namen als ebenbürtiger aber eben doch nicht ganz gleichwertiger Erstautor? Gibt es zusätzliche verantwortliche (corresponding) Autoren, wird dafür eine jüngere Autorin in der Rangfolge herabgesetzt? Wo reiht sich der Postdoc ein, der nur schnell noch ein, zwei Experimente für die Revision nachgereicht hat, aber ein besonders kollegiales Verhältnis zum Chef pflegt?

    In der Regel sind es zwischen einer Hand voll und einem Dutzend Autoren, die auf diesen Publikationen stehen, die man zuerst mal versucht bei Cell, Nature oder Science einzureichen (und meistens nach ein paar Tagen abgelehnt zurück bekommt). Wie sieht es aber bei noch komplexeren Projekten mit der Bestimmung der Autorenlisten aus?
    Calliope Sotiropoulou arbeitet am ATLAS Projekt am CERN. Hunderte Wissenschaftler forschen an den Experimenten dort, dementsprechend lang sind die Autorenlisten. Angefertigte Manuskripte durchlaufen dort zuerst eine offizielle interne Kontrolle, bevor sie überhaupt an ein Journal geschickt werden. Sotiropoulou, die ebenfalls Teilnehmerin am Heidelberg Laureate Forum 2015 war, beschreibt, wie ein Game of Thronesques Gemetzel umgangen wird:
    „The ATLAS experiment has many subsystems and each one has a Speaker’s committee. This committee informs the subsystem members about the conferences that are suitable for publications and presentations and controls the whole process. We submit the abstract or proceeding to the Speaker’s committee where it goes through a review process first by the committee before it is even submitted. […] Then all ATLAS submissions are handled by the committee which will also decide who will make the presentation or present the poster (everything goes through a review process again).
    A publication within ATLAS can have a custom author list (which means that only the directly involved scientists sign it […]) or be an ATLAS publication (which means that the whole ATLAS collaboration – author list signs it). Belonging to the ATLAS collaboration does not make you an ATLAS author. In order to become an ATLAS author you are assigned an authorship task and qualify to be an ATLAS author. This task must be completed successfully within a year. After that you sign all ATLAS publications. However, for a paper to be published through ATLAS and with the ATLAS author list it takes significant time (usually a year or more). It has to go through reviewing and commenting through the various institutes that participate and be presented to the collaboration, and this has many iterations until it is finally ready for publication. […].“

    Ich nehme heute an einer Podiumsdiskussion am KIT in Karlsruhe teil: Publish or perish. Sinnvoll publizieren. Ich bin gespannt, welche Dramen sich bei der Publikation von Artikeln in anderen Wissenschaftsdisziplinen abspielen.
    Ich kann mir gut vorstellen, die Diskussion heute Nahmittag mit einigen Beispielen aufzulockern. Wer also eigene traumatische Erlebnisse mit dem Publikationsprozess gemacht hat, bitte unten kommentieren!

  • Meine einzige Sechs war in Mathe

    Meine einzige Sechs war in Mathe

    Mich verbindet so etwas wie Hassliebe mit Mathematik. Ich war immer schon von der Klarheit und gleichzeitig der Abstraktion dieser Wissenschaft fasziniert und habe Freunde bewundert, denen das Verständnis für Mathematik zufliegt. Mir ging es leider nicht so. Es war in der Schule mein schlechtestes Fach. In meiner gesamten Schullaufbahn schrieb ich eine einzige Sechs. Das war in Mathe. Ich bin nicht stolz darauf. Ich bin mehr als einmal an mir gestellten Aufgaben verzweifelt, zum Teil aus Mangel an ausreichendem Methodenwissen, aus Mangel an Talent, und zum Teil an einer fehlenden Greifbarkeit der Problemstellungen. Vielleicht lag es auch an meinem Mathelehrer. Die Abstraktion der Mathematik, die ich einerseits bewundere, hat mir jedenfalls oft deutlich meine intellektuellen Grenzen aufgezeigt.
    Das Heidelberg Laureate Forum ist das Gipfeltreffen preisgekrönter Wissenschaftler aus Mathematik und Computerwissenschaften. Die Koryphäen kommen dort kommende Woche mit 200 Nachwuchswissenschaftlern aus etlichen Ländern in Heidelberg zusammen. Wie kommt es also, dass ausgerechnet ich, mit zugegebenermaßen beschränktem mathematischen Verständnis und kaum erwähnenswerten Ausflügen in die Programmierung von Computern, von dort berichten darf?
    Moderne Mathematik und Computerwissenschaften haben mit der von mir so innig gehassliebten Schulmathematik wahrscheinlich so viel zu tun wie eine Magnetschwebebahn mit der Draisine. Das Verständnis der Grundlagen wird für mich also sicher nicht einfacher – und darüber kann ich dann auch nicht berichten auf dem HLF-Blog. Ich habe mir aber vorgenommen beim Laureate Forum in Heidelberg die Fragestellungen zu verstehen, die hinter der Forschung stehen. Die potentiellen und realen Anwendungen der beiden Forschungsgebiete vorzustellen, schlicht also das für mich geistig so Fremde und Abstrakte greifbar zu machen.
    Ich habe mir zur Vorbereitung auf das Heidelberg Lautete Forum durchgelesen an was die 200 Nachwuchswissenschaftler forschen. Sowohl die Faszination wie auch das Verständnis für Mathematik und Computerwissenschaften haben dabei schon zugenommen. Einige mehr oder weniger zufällig ausgewählte Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellen sich, ihre Motivation, und ihre Forschungsgebiete zur Einstimmung auf die Tagung drüben im englischsprachigen Blog jeden Tag diese Woche vor. Unter anderem von mir gibt es dann kommende Woche auch auf dem deutschen Blog des HLF Texte aus Heidelberg. Der Twitter Hashtag ist #hlf15.

    Bild oben: Der Sharp PC1246S Pocket Computer auf dem ich mal gelernt habe BASIC zu programmieren.
  • Die OPEC hat den längeren Atem – Warum der niedrige Ölpreis den Saudis zuletzt schadet

    Die OPEC hat den längeren Atem – Warum der niedrige Ölpreis den Saudis zuletzt schadet

    Die Entscheidung, der OPEC, die maximale Fördermenge von 30 Millionen Barrels pro Tag vorerst unverändert zu lassen, ist kein Zeichen der Schwäche des Ölkartells. Es ist ein Test des längeren Atems und ein Versuch, konkurrierende Ölproduzenten trocken zu legen. Der Marktpreis pro Barrel liegt aktuell bei etwa 70 Dollar, die Kosten um rentabel zu fördern liegen für russisches Öl zum Beispiel bei 110 Dollar pro Barrel und für die Gewinnung kanadischen Öls aus Ölsand bei etwa 100 Dollar. Denkbar schlechte Marktbedingungen für diese Konkurrenten der OPEC.
    Auch für die USA liegt der Preis denkbar knapp an der Rentabilitätsschwelle für die Ölförderung durch Fracking. Die Vergangenheit dient als Warnung. Der letzte Fracking-Boom in den USA in Folge der Ölkrise der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fand Anfang der 80er Jahre ein rapides Ende, ausgelöst durch fallende Ölpreise, damals vor allem verursacht durch die Verfügbarkeit billigeren Öls aus Alaska und der Nordsee.
    Paradoxerweise kann selbst Saudi-Arabien, der größte Produzent und einflussreichstes Mitglied der OPEC, bei einem Preis von 70 Dollar pro Barrel nicht mehr rentabel fördern. Der eine Dreiviertel Billion Dollar umfassende Bargeldpuffer der Saudis erlaubt es ihnen jedoch abzuwarten und zu beobachten, wie weniger rentable und weniger liquide Konkurrenten der Reihe nach Probleme bekommen. Das selbst ärmere OPEC-Länder wie Venezuela, Nigeria und der Iran davon betroffen sind, wird offenbar in Kauf genommen.
    Der aktuell relativ niedrige Ölpreise dürfte auch die Debatte um die Gewinnung von Schiefergas in Deutschland durch Fracking wenn nicht aufgehoben, so doch zumindest aufgeschoben haben. Denn abgesehen von der Frage der Rentabilität, scheint rein rational wenig gegen die Gasförderung durch Fracking auch in Deutschland zu sprechen.

  • Die E-Zigarette kann Millionen Menschenleben retten. Wozu dann regulieren?

    Die E-Zigarette kann Millionen Menschenleben retten. Wozu dann regulieren?

    Tabak hat im zwanzigsten Jahrhundert 100 Millionen Menschenleben gefordert. Die WHO prognostiziert 1 Milliarde Tabaktote weltweit für dieses Jahrhundert – wenn der bisherige Trend anhält.
    Seit 2007 wird ein Mittel gegen den Tabaktod angeboten. Die E-Zigarette raucht nicht, sie produziert Dampf. Die E-Zigarette stinkt nicht, weil nichts verbrannt wird. Die E-Zigarette ist weniger gesundheitsschädlich, denn es entsteht kein Kohlenmonoxid, keine Blausäure, kein Arsen, keine Nitrosamine und keine polyzyklischen Kohlenwasserstoffe.
    Ist die elektrische Zigarette also die Lösung eines der größten Gesundheitsprobleme unserer Zeit? Die Teilnehmer einer Vortragsrunde mit dem Titel “Sanftes Töten oder unsere größte Chance für das Gesundheitswesen” äußerten sich gestern auf dem Euro Science Open Forum (ESOF) vorsichtig positiv, hatten allerdings auch Bedenken.
    Wilson Compton, Stellvertretender Direktor vom NIDA zitierte Literatur, wonach genetische Unterschiede in Nikotinrezeptoren dazu beitragen, wie viele Zigaretten ein Raucher braucht und wie abhängig und krank er dementsprechend wird. Auch sei bei Jugendlichen die Plastizität des Gehirns noch hoch, und daher die Gefahr der Abhängigkeit von Nikotin daher höher.
    Das sind allerdings keine Bedenken spezifisch gegen die elektrische Variante der Nikotinzufuhr, und so hatte Sudhanshu Patwardhan, internationaler Engagement Officer von Nicoventures Media, also der Vertreter der Industrie, es leicht, die E-Zigarette als die Lösung aller Gesundheitsprobleme darzustellen. Er prognostizierte, dass 2021 mehr Geld mit E-Zigaretten als mit traditionellen Tabakprodukten umgesetzt wird.
    Als Kontrapunkt sprach danach Deborah Arnott, die Leiterin der not-for-profit Organisation ASH (action on smoking and health). Die E-Zigarette sei seit 2007 auf dem europäischen Markt, und obwohl die Hälfte der Raucher in Großbritannien sie schon ausprobiert habe, würde nur ein Drittel derjenigen die es probieren, tatsächlich umsteigen, berichtete Arnott. Dennoch sei zu beobachten, dass obwohl die Zahl der Nutzer der E-Zigaretten derzeit stark ansteigt, die Gesamtzahl der Raucher weiter abnehmen würde.
    Alle Teilnehmer der Session erkannten großes Potential in den elektronischen Zigaretten, da die gesundheitlichen Gefahren durch die giftigen Inhaltsstoffe tabakbasierter Zigaretten weitgehend wegfallen würden. Besonders Arnott warnte aber auch vor potentiellen neuen Gefahrenquellen durch zugesetzte Aromastoffe, Verunreinigungen, und vor fehlender Regulierung des Marktes. Auch die Gefahr, dass die E-Zigarette eine Einstiegsdroge für Jugendliche sei, ist gegeben und kann noch nicht beurteilt werden, da der Markt einfach noch zu jung sei.
    “People smoke for nicotine but die from tar” war die Erkenntnis, auf die alle Präsentationen aufbauten. Der Rauch ist also das Problem, und nicht das Nikotin. Zumindest aus gesundheitspolitischer Sicht.
    Wer Abhängigkeiten aber generell nicht mag, für den sind aber auch mit LED Lämpchen bestückte Vaporisieraparaturen keine Alternative. Für den gibts nur den Entzug. Und für ehemalige Raucher die Hoffnung, nicht auf die alte Sucht im neuen Gewand hereinzufallen.

    Wie funktioniert die E-Zigarette?

    Die inzwischen in der dritten Generation verfügbaren elektronischen Zigaretten enthalten ein Reservoir für eine Nikotinhaltige Lösung, ein Heizelement, welches diese Lösung verdampft, einen Sensor, der erkennt, ob und wie stark der Raucher an der Zigarette zieht, und ein elektrisches Schaltelement, welches mit einer wiederaufladbaren Batterie verbunden ist und welches das Heizelement, sowie bei manchen ein eingebautes LED Lämpchen reguliert.

    Was wird mit der E-Zigarette eingeatmet?

    Die durch das Heizelement verdampfte Lösung basiert häufig auf Propandiol und Glycerin und enthält bis zu 20 mg/ ml Nikotin. Den meisten E-Zigartetten werden noch Aromastoffe beigemischt. Am Heizelement wird das dickflüssige Gemisch verdampft, es wird also kein Rauch eingeatmet.

    Ist die E-Zigarette gesundheitsschädlich?

    Propandiol und Glycerin sind nicht giftig. Nikotin ist in den verwendeten Dosierungen ebenfalls nicht gesundheitsschädlich. Bei den zugesetzten Aromastoffen ist es häufig nicht abschließend geklärt, wie gesundheitsschädlich diese sind, und insbesondere ob sie durch das notwendige Erhitzen nicht gesundheitsschädlich werden. Weiter besteht die Gefahr durch Verunreinigungen unbekannte Stoffe einzuatmen.

  • Drei überraschende Tatsachen zur Fussball-WM. Die letzte gesteht die FIFA so nie ein!

    1. Die Heimmannschaft wird durch den Schiedsrichter systematisch bevorzugt.

    Die Fussball-WM ist in vollem Gange und, untertrieben gesprochen, von Überraschungen nicht ganz frei. Wer hätte gedacht, dass Brasilien im Auftaktspiel gegen Kroatien solche Schwierigkeiten hat. Die Seleção hat letztendlich dennoch klar gewonnen nicht zuletzt durch einen strittigen Elfmeter.
    Fred fällt im koratischen Strafraum um. Elfmeter.
    Die Kritik am japanischen Unparteiischen wurde zwar von Offiziellen zurück gewiesen, es gibt dennoch Studien, die zeigen, dass  Schiedsrichter zwar unbewusst aber systematisch die Heimmannschaft bevorzugen.
    Boyko et al. beschreiben in Ihrer Studie ein Regressionsmodell, mit dem sie in der englischen Premierleage anhand von über 5000 analysierten Partien zeigen konnten, dass  bei fast allen der 50 untersuchten Schiedsrichtern einen Hang zur Bevorzugung der Heimmannschaft gab. Der Grad der Bevorzugung war unterschiedlich hoch zwischen den Individuellen Unparteiischen.

    2. Der zum markieren der Freistoßdistanz eingesetze Schaum ist mindestes eine, höchstes jedoch drei Minuten haltbar.

    Der von dem Argentinier Pablo C. Silva patentierte Markierungsschaum, der nur eine bestimmte Zeit sichtbar ist, wird unter dem Namen 9.15 fairplay als Spray vertrieben und von den WM-Schiedsrichtern genutzt, um die Distanz der Mauer zum Ball beim Freistoß zu markieren.
    Der Schaum besteht aus:

    • einem Emulgator, um den Schaum stabil zu halten. Laut Patentschrift hauptsächlich Sorbitanfettsäureester
    • einem Chelatkomplex, also beispielsweise EDTA,
    • einem ungiftigen Konservierungsmittel
    • 5%-30% Triebmittel, das aus einer Mischung aus Butan, Isobutan und Propan besteht
    • und Wasser

    Der Legende nach kam der Erfinder, selbst Amateurfussballer, nach einem verlorenen Match auf die Idee.

     3. Der FIFA-WM-Pokal ist innen hohl

    Der FIFA-WM-Pokal, ist aus 18 Karat, also 75% Gold. Er müsste bei einer Höhe von 36,8 cm und einem von mir geschätzten Volumen von drei Litern und einer Dichte von 16,5 g/cm3 des Goldes (75% Gold, 25% Kupfer) rund 50 kg wiegen. Zu viel, um bei der Siegerehrung leichtfertig über Kopf gerissen zu werden.
    Laut FIFA ist der Pokal 6,175 kg schwer. Bei dem aktuellen Goldpreis von rund 940 EUR pro Feinunze beträgt der Materialwert alleine fast 140.000 EUR.
    Ein weiteres Geheimnis, das von der FIFA verschwiege wird: Der WM Pokal wurde ursprünglich einem halben, fettigen Chickenwing nachempfunden.
    Links: FIFA-WM-Pokal. Rechts: Halber gegrillter Flügel eines Hühnchens.
     

  • Gehirnstudie zeigt Geschlechtsunterschiede – und sonst?

    Es ist ein dankbares Thema, weil es Geschlechterstereotypen schön bedient. Ein PNAS Artikel, mit dem Title „Sex differences in the structural connectome of the human brain” der vorgestern vorab publiziert wurde, wird von den Medien aufgegriffen. Männer können besser Landkarten lesen, Frauen können besser analytische und intuitive Informationen miteinander verbinden. So oder so ähnlich. Jetzt auch gezeigt mit neuester Technik direkt im Gehirn.
    Für die Studie wurde bei fast eintausend Heranwachsenden die Konnektivität der Neurone im Gehirn untersucht. Die Autoren nutzen Diffusionsmagnetresonanz (DTI) um die Konnektivität unterschiedlicher Gehirnregionen zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen zweierlei:

    1. Generell scheint die Konnektivität innerhalb einzelner Hirnregionen bei Frauen höher zu sein als bei Männern, mit Ausnahme vom Kleinhirn.
    2. Bei Frauen sind die beide Hirnhälften relativ stärker miteinander verbunden als bei Männern.

    Die Ergebnisse der Studie werden von Ragini Verma, der verantwortlichen Autorin folgendermaßen eingeordnet:

    „These maps (Die Konnektivitätskarten des Gehirns) show us a stark difference – and complementarity – in the architecture of the human brain that helps provide a potential neural basis as to why men excel at certain tasks, and women at others”.

    Die Studie liefert Daten, die mit geschlechtsspezifischen Verhaltensunterschieden korrelieren. Die Ergebnisse erlauben es aber sicher nicht, bestimmte Verhaltensmuster kausal mit Unterschieden in der Gehirnarchitektur zu erklären.
    Die Konnektivität verschiedener Gegenden in Gehirnregionen ist bei Frauen höher als bei Männern, außer im Kleinhirn. Copyright: PNAS
    Kritik an der Studie direkt, nicht an der Berichterstattung darüber, betrifft vor allem die Zuverlässigkeit der DTI-Messungen. Das Blog Neuroskeptic und anonyme Kommentatoren auf Pubpeer merken an, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in Stillhalten des Kopfes die Ergebnisse beeinflussen könnten.
    Tatsächlich wurde in einer Studie letztes Jahr gezeigt, dass die Kopfbewegung zwischen Individuen stark variiert und Faktoren wie Alter, und Krankheit das Kopfwackeln und damit die MRI-Messungen beeinflussen. Wackeln vielleicht Männer einfach mehr?
    Journalisten suchen natürlich nach einer Story hinter der wissenschaftlichen Publikation, wobei die Übergänge zwischen originalgetreuer Wiedergabe und freier Interpretation der Studienergebnisse fließend sind. Am schönsten hat „The Mouth“ die Studie zusammengefasst und illustriert:

    „Female brains are just scribbled multicoloured mess reveals science study.“

    ResearchBlogging.orgIngalhalikar M, Smith A, Parker D, Satterthwaite TD, Elliott MA, Ruparel K, Hakonarson H, Gur RE, Gur RC, & Verma R (2013). Sex differences in the structural connectome of the human brain. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America PMID: 24297904

  • Dahin, wo das Piperonal wächst. Fragen an Ritter Sport.

    Wie die Faz vergangene Woche berichtete, hat Ritter Sport inzwischen eine einstweilige Verfügung gegen die Stiftung Warentest erwirkt. Die Verbraucherschutzorganisation hatte in einem Test von Nussschokolade unter anderem die Sorte Voll-Nuss von Ritter Sport aufgrund von einer als irreführend eingestuften Kennzeichnung der Inhaltsstoffe mit Mangelhaft benotet.
    Konkret geht es um den Aromastoff Piperonal, der laut Auszeichnung auf der Schokoladepackung ein “natürliches Aroma” sei, laut Stiftung Warentest jedoch chemischen Herstellungsverfahren entspringen soll.
    Bestätigten Angaben zur Folge bezieht die Firma Ritter Sport den Aromastoff vom Unternehmen SymRise, welches an Eides statt erklärt hat, dass das an Ritter Sport gelieferte Piperonal ein natürliches Produkt sei, welches der europäischen Regulierung zu Aromastoffen folgend, aus Pflanzen isoliert wird.
    Die eidesstattliche Versicherung von SymRise bezieht sich auf ein Vanillearoma, dem Piperonal zugegeben wird. Zitiert wird Artikel 3 Absatz 2c der EU-Verordnung zu Aromastoffen (.pdf):

    natural flavouring substance’ shall mean a flavouring substance obtained by appropriate physical, enzymatic or microbiological processes from material of vegetable, animal or microbiological origin either in the raw state or after processing for human consumption by one or more of the traditional food preparation processes listed in Annex II. Natural flavouring substances correspond to substances that are naturally present and have been identified in nature

    Annex lI listet traditionelle Arten der Lebensmittelzubereitung, mit denen es zumindest schwierig erscheint ausreichende Mengen „natürliches“ Piperonal zu isolieren. Denn laut Toxnet kommt Piperonal nur in Spuren in einigen Planzen natürlich vor, unter anderem in Robinien und laut Firmenblog von Rittersport:

    in Tahiti-Vanille, Kräutern und Gewürzen sowie einer ganzen Reihe anderer Pflanzen, z.B. in Pfeffer und Dill.

    Alternativ kann Piperonal, das wohl häufig in der Duftstoff- und Parfümindustrie eingesetzt wird, aber auch relativ einfach aus Safrol, einem Naturstoff,  hergestellt werden. Dabei wird Safrol zu Isosafrol isomerisiert und dann sauer zu Piperonal oxidiert. Das ist allerdings auf chemischem Wege, was Artikel 3 der EU-Verordnung zuwider laufen würde.
    Die Stiftung Warentest jedenfalls teilt mit, sie würde derzeit keine über die bereits bekannten Fakten hinausgehenden Details zu den Untersuchungsgrundlagen und Bewertungsfragen nennen. Meiner Meinung nach ist derzeit auch immer noch Ritter Sport, beziehungsweise Symrise am Zug.
    Ich wäre zum Beispiel mit ein paar Zahlen zu überzeugen. Konkret, und vielleicht liest ja die eifrige PR-Abteilung von Ritter Sport hier mit:

    • Wie viel reines Piperonal wird einer Tonne Nussschokolade zugegeben?
    • Wie hoch ist die Konzentration von Piperonal in der Ausgangspflanze?
    • Und welche Extraktionsmethode wird zur Isolierung und Aufreinigung des ja nur in Spuren vorkommenden Piperonals aus der Ausgangspflanze angewendet?

    Was ist eigentlich aus dem Begriff „naturidentischer Aromastoff“ geworden?

  • Mama, ich bin im Fernsehen!

    Seit ein paar Tagen registrieren sich deutlich mehr Nutzer für Recently als es im August der Fall war. Liegt es daran, dass alle, die relevante, neue biomedizinische Publikationen finden wollen in den letzten Wochen am Strand lagen? Hoffentlich auch!
    Wahrscheinlicher ist aber, dass der Artikel über Recently ist im Laborjournal für das erhöhte Verkehrsaufkommen auf recentlyapp.com sorgt. Der Artikel preist die App für Wissenschaftler und Mediziner in allen Facetten an – kein Wunder, ich habe den Artikel ja auch selbst geschrieben.
    Außerdem habe ich Biotechnologie.tv ein Interview über Recently gegeben, in dem ich auch noch mal die Hintergründe und die Funktionsweise von Recently erkläre. Es sollte hier unten zu sehen sein.

    Das Interview mit mir startet bei 6 min 12 sec. Hier ist der Direktlink zum Video.
    Zwar nicht ausdrücklich das Video hier mit meinem Interview, aber dafür andere von Biotechnologie.tv, wie z.B die Kreidezeit über Gentechnik oder über Gregor Mendel, stellen sich gerade der Konkurrenz in einem Web-Video-Wettbewerb, in dem die meist-gelikten und kommentierten Wissenschaftsvideos prämiert werden.
    Ich wusste gar nicht, wie divers die Landschaft für deutsche Wissenschaftsvideos ist. Da sind durchaus Perlen mit dabei, bis Ende September kann noch abgestimmt werden. Und in der ersten richtigen Arbeitswoche nach dem Urlaub erst mal ein paar Videos gucken ist auch nicht das schlechteste.

    Mehr zu Recently:
  • Neue Trainingsmethoden – Warum man auch ohne Doping die Tour de France gewinnen kann

    Gastartikel
    Doping im Radsport war in den letzten Jahrzehnten weit verbreitet. Wir dürfen davon ausgehen, dass es zumindest bei der Tour kaum saubere Spitzenleistungen gegeben hat. Team Sky beruft sich nun auf verbesserte Trainingsmethoden, Akribie hinsichtlicher technischer Aspekte und beste individuelle Betreuung ihrer Sportler und will so die zum Teil herausragenden Leistungen ihrer Sportler erklären. Ist das plausibel?
    Um dies zu diskutieren, sollte man sich anschauen, welches Wissen und auch welche Technik den Sportlern heute zur Verfügung steht, das vor 5-10 Jahren noch nicht zur Verfügung stand und das ganze vor den Leistungsanforderungen eines möglichen Toursiegers.

    Wie sehen Toursieger aus?

    Offensichtlich müssen Radsportler, die schnell Berge hochfahren wollen, sehr leicht sein. Da die Berge bei der Tour bis zu 20 km lang sind und Aufstiegszeiten von bis zu einer Stunde benötigen, wird letztlich derjenige am Ende vorne sein, dessen relative Leistungsfähigkeit in einem Zeitfenster von 20-60 Minuten am besten ist. Aus den Aufstiegszeiten und dem Gewicht des Sportlers lassen sich dann Watt/ kg ausrechnen.
    Bei Sprintern ist die Rechnung noch komplexer. Hier wird die absolute Wattleistung in Bezug zur Aerodynamik des Sportlers gesetzt. Kleine Fahrer wie Cavendish, die es schaffen, ihren Kopf bei Tempo 70 auf Lenkerhöhe zu halten, brauchen im Sprint geschätzte 200-300 Watt weniger als Sportler mit einer Figur und Haltung von Greipel.
    Das Talent und normales Training bringt unseren Sportler vielleicht auf eine Leistungsfähigkeit von 420 Watt in der Stunde. Der Sportler wiegt 74 kg und seine relative Stundenleistung beträgt 5,67 W/ kg. Das ist nicht schlecht und würden diesen Profi auf jeden Fall zu einem sehr wertvollen Helfer auf Flachetappen machen und er könnte in der Position 3-5 am Berg auch noch Helfer für seinen Kapitän sein. Wenn unser Sportler aber nun von diesen 74 kg 10 kg verlieren würde – ohne Leistungsfähigkeit einzubüssen – hätten wir seine Leistungsfähigkeit auf 6,54 Watt/kg erhöht und sind in den Leistungsbereichen, die z.B. von Vayer mit Doping erklärt werden.
    Wir sehen also, dass wir allein durch eine strikte Diät aus einem guten Profi einen Toursieger machen können. Natürlich werden auch Muskeln am Oberkörper Opfer dieser Diät. Das ist aber gewollt, jeder Muskel, der nicht benötigt wird, muss zusätzlich mit Sauerstoff versorgt werden. Unser Radsportler würde idealer Weise ergänzend ein Übungsprogramm absolvieren, z.B. Yoga, Pilates, Coretraining, um den Aufbau und Erhalt einer schlanken Muskulatur zu unterstützen. Das sind natürlich nur Zahlenspiele, die die Rolle des Körpergewichtes veranschaulichen sollen.
    Amüsant ist, dass in einigen Medien neue Wundermittel aufgeführt werden, die den Profis helfen sollen, ihr mageres Gewicht zu erreichen. Um 10 kg abzunehmen brauchen wir ein Kaloriendefizit von 70.000 kcal. Sie glauben das ist viel? Ein Profi hat kein Problem im normalen Training 3500 kcal zusätzlich zu verbrennen. Das sind 20 Trainingstage und der Athlet müsste dann noch nicht einmal auf seine täglichen 2500 kcal verzichten. Natürlich würden die Profis, um ihre Leistungsfähigkeit zu halten, diese Diät auf einen Zeitraum von vielleicht 60 Tagen ausdehnen. Kein Profi, der messen und wiegen kann, braucht ein Mittel, dass die Fettverbrennung steigert.

    Von Glycogenspeichern und Fettstoffwechseltraining

    Die Stundenleistung kann nur dann auch am Ende der Etappe in etwa erreicht werden, wenn die Glycogenvorräte des Sportlers noch gut gefüllt sind. Wenn wir nun schätzen, das ein Sportler einen Glycogenvorrat von insgesamt vielleicht 600-700 Gramm hat, erkennen wir, dass wir hier einen Leistungsbegrenzer haben. Immer dann, wenn der Sportler Vollgas fährt, verbraucht er ausschliesslich Kohlenhydrate. Selbst volle Speicher reichen also nur für 1,5 bis 1,8 Stunden Vollgas. Wir können uns aber vorstellen, dass der Sportler, der es schafft, mit seinen Glycogenvorräten vorsichtig umzugehen, auf die Dauer einer Tour de France Vorteile hat.
    Das war nicht immer so. Aus den Aufzeichnungen von Bernhard Kohl zur Tour 2008 wissen wir, das er täglich mit Insulin gearbeitet hat. Insulindoping soll die Glycogenvorräte um bis zu 40 Prozent steigern. Mit Doping hat man also schlicht und ergreifend den „Tank“ vergrössert und konnte so länger schnell fahren. Was Kohl noch nicht wissen konnte, ist, dass man die Fettverbrennung auch im Bereich der Schwellenleistung (Stundenleistung) aktivieren kann (Studie von Jeukendrup). Die Trainingsroutine wird ergänzt durch eine wöchentliche Einheit in der der Fettstoffwechsel im Belastungsbereich zwischen 85 und 100 Prozent der Schwellenleistung (Stundenleistung) in Form von Intervallen trainiert wird. Zuvor werden die Speicher nahezu leer gefahren – mit enormen Lerneffekten des Körpers.
    Der Sportler kann so den Anteil der Fettverbrennung an der Energieversorgung steigern und die Glycogenspeicher vergrössern. Das Konstrukt dieser Einheit ist so angelegt, dass der Sportler lernt mit erschöpften Speichern und seiner Wettkampfernährung noch Leistung zu bringen. Früher hat man lange 6-8 h Ausfahrten im ruhigen Tempo gemacht und so versucht, den Fettstoffwechsel zu optimieren. Wenn man bei solchen Ausfahrten dann in den Stunden 4-6 auch mal Berge mit höherer Leistung gefahren wäre, hätte man auch den oben geschilderten Effekt. Wenn wir den besseren Trainingseffekt aber in kürzerer Zeit gezielter hinbekommen, halten wir die Gesamtermüdung des Sportlers in Grenzen und gewinnen Platz im Trainingsplan für andere Einheiten und Trainingsinhalte. Hier sind weitere, sportmedizinische Hintergründe zum Fettstoffwechseltraining (pdf)

    Individualisierte Rennernährung

    Sie kennen als Zuschauer der Tour de France vielleicht noch die Silberlinge, die uns immer als Verpflegung der Profis dargestellt wurden? Heute weiß man, dass jeder Sportler eine individuelle Zusammensetzung seines Wettkampfgetränkes benötigt. Ideal ist ein Getränk, das zu einem Drittel aus Fructose und zwei Dritteln aus Einfach- oder Mehrfachzuckern besteht. Die Geschichte mit der Fructose (findet einen zusätzlichen Weg ins Blut) ist neu und dieses Wissen stand zumindest Armstrong und auch Ullrich noch nicht zur Verfügung. Man kann also heute bis zu ein Drittel mehr Nahrung aufnehmen und verarbeiten als früher. Man weiß heute auch, das in ein Wettkampfgetränk zusätzlich nur noch Salz und Koffein gehören. Alle andere Zugaben erhöhen ohne Nutzen die Anzahl der Teilchen und erschweren so die Verfügbarkeit und Menge der Kohlenhydrate.
    Aus diesem Wissen folgt auch, dass man heute als Sportler mehrere Kohlenhydratlieferanten in Form von Maltodextrin, Wachsmaisstärke, Fructose (Verträglichkeit prüfen!) zu Hause hat und sukzessive austestet, mit welcher Mischung man am besten klarkommt. Zum Beispiel während der oben geschilderten Fettstoffwechseleinheit. Natürlich besteht aber auch ein Teil des Talents des Sportlers darin, möglichst viel Energie im Wettkampf aufzunehmen und umsetzen zu können.
    Aber was ist mit dem Silberling? Während der Tour sollte ein Sportler jede Stunde nutzen, um sein persönliches Maximum an Nahrung pro Stunde zu sich zu nehmen. Während einer ruhigen Etappe im Feld können das 90 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde sein. Da die Muskulatur arbeitet, wird der Zucker im Blut sofort verarbeitet und schont somit die Speicher. Am Berg in der Rennentscheidung wird man vermutlich je nach Sportler eher auf 50-60 Gramm pro Stunde gehen und eine Mischung nehmen, die sehr schnell ins Blut geht. Beschrieben wird das beispielsweise in dieser Studie zur Leistungssteigerung beim Zeitfahren durch veränderte Ernährungsstrategien.
    Adam Hansen beim Aufstieg nach Alpe d’Huez. Gerüchten zur Folge entspricht das Getränk in seiner Hand nicht der offiziellen Zusammensetzung für Radprofis. Quelle: Twitter
    Bleiben wir noch einen Moment bei den Glycogenvorräten, die es zu schonen gilt. Die Durchschnittleistungen bei einer Flachetappe können relativ niedrig liegen. Nehmen wir an, sie betrage 200 Watt. Dann verbraucht unser Sportler auf 200 km ca. 4000 kcal. Wenn wir diesem Sportler nun ein besonders eng anliegendes Trikot (Aerotrikot) anziehen und ihm einen Aerohelm aufsetzen und ihn auf einen Aerorahmen mit Aerolaufrädern setzen, können wir seine Durchschnittsleistung auf 170 bis 180 Watt reduzieren. Im Laufe einer normalen Etappe kann unser Sportler so seinen Energieverbrauch vielleicht um 500 kcal absenken. Das bedeutet von Tag zu Tag weniger Müdigkeit, weniger Belastung des Magen-/Darmtraktes und somit auch eine verbesserte Regeneration.
    Bei einer rennentscheidenden Etappe hat unser professionell betreuter Sportler also einen Vorteil aus einer optimalen Fettverbrennung, seinem bestem Wettkampfgetränk und durch sein Material einen günstigen Luftwiderstandsbeiwert.
    Auf der gestrigen Etappe mit dem zweimaligen Anstieg nach Alp d`Huez haben wir sehr deutlich gesehen, wie leere Speicher sich auf das Renngeschehen auswirken, aber auch wie unterschiedlich Fahrer darauf reagieren. Froome hat seine drohende Unterzuckerung rechtzeitig erkannt und konnte dann mit einem Gel die letzten fünf Kilometer noch so schnell fahren, das er auf die ihn verfolgende Gruppe von Contador nur ca. 10-15 Sekunden verlor. Da das Gel aber auch nicht sofort ins Blut geht, können wir davon ausgehen, das Froome das erste Anzeichen einer drohenden Unterzuckerung bemerkt hat. Der Leistungsmesser hilft hier.
    Früher konnte man das hohe Tempo der Konkurrenz nicht mehr folgen und erzählte sich darüber Geschichten, heute weiß der leistungsgesteuerte Sportler, dass er Probleme hat, seine eigene Leistung zu erbringen und kann dann die richtigen Rückschlüsse ziehen. Gut, wenn man das im Training trainiert hat, zum Beispiel mit der oben dargestellten Trainingseinheit.

    Neues Wissen, neue Trainingsmethoden?

    Schauen wir uns noch mal ein bisschen näher das Training an. Zu Jan Ullrichs Zeiten wurden die Sportler auf ein Ergometer gesetzt und dann wurde ein Belastungsstufentest mit Spirometrie und Laktatmessung durchgeführt. Aus den Ergebnissen wurden dann Trainingsempfehlungen abgeleitet. Seit ein paar Jahren wissen wir, Laktat ist nicht nur ein Stoffwechselprodukt, das man als Parameter für die Ermüdung heranziehen kann, sondern spielt auch eine Rolle als Energieträger. Laktat kann also vom Sportler genutzt werden, um dem arbeitendem Muskel zusätzlich Energie zuzuführen.
    Wenn wir früher bei Leistungssportlern die so genannte individuelle anaerobe Schwelle auf beispielsweise 400 Watt gelegt haben, dann konnte es durch aus sein, das dieser Sportler eine so genannte funktionelle (tatsächliche) Schwelle von 420 Watt hatte. Ich habe als Hobbysportler keinen Einblick in die Ergebnisse von Profisportlern, kenne aber persönlich nicht einen konventionellen Test im Hobbybereich der belastbare Trainingsempfehlungen gegeben hätte. Wenn Sie also Hobbysportler sind und Sie wollen ihre Leistungsfähigkeit untersuchen lassen, dann machen Sie es ruhig und sammeln sie die Daten, bis Sie sie selber interpretieren können.
    Zurück zum Laktat und unserem neuen Wissen über seine Rolle als Energieträger. Mittlerweile gibt es erste Trainingsempfehlungen aus der Sportwissenschaft. Wir bauen Einheiten, in denen wir bewusst in einem Intervall Laktat erzeugen und dann die Leistung absenken, um das Laktat als Energieträger im Muskel zu verarbeiten. Wir fahren also 3-4 Minuten mit vielleicht 105-110 Prozent unserer Schwellenleistung und reduzieren dann die Leistung auf 85-95 Prozent für weitere 4 Minuten. Wenn die Tour näher kommt, würde man diese Übung dann entsprechend spezifizieren und mit Antritten am Berg kombinieren. Zum Beispiel 10 Sekunden hart antreten und dann für weitere 30 Sekunden das Tempo hochhalten und dann erst das Tempo auf 85-90 Prozent der Stundenleistung absenken.
    Übrigens gab es schon immer Einheiten, wie z.B. das Schwellenkreuzen, mit denen man ähnliche Effekte erzielt hat. Neu ist heute, dass wir wissen, warum diese Einheit nützlich ist und zu welchem Zweck und wann sie eingesetzt werden kann. Verkürzend könnte man sagen, dass wir ähnlich der exogenen Versorgung mit Kohlenhydraten trainieren können, das Laktat als Energieträger zu nutzen; und zwar dergestalt, dass der Formaufbau begünstigt wird.Wir haben mit diesem Wissen also ein weiteres Puzzle, um unseren Sportler formaufbauend zu Tour zu bekommen.

    Der Trainingsplan – gestern und heute

    Wenn wir unseren Trainingsplan für unseren Tour de France Sieger 2014 zusammenbauen, hilft uns jedes neuere Wissen, die Einheiten entsprechend einzuplanen. Wir bekommen also mehr Qualität in unser Training. Bernhard Kohl hat in der „Zeit“ versucht, seinen Trainings- und Dopingplan zu rekonstruieren. Die Daten sind natürlich unvollständig und ich tue ihm vermutlich im folgenden Unrecht, möchte diesen Plan aber gerne als Beispiel nehmen.
    Früher haben Leistungssportler im Oktober eine längere Ausszeit genommen. Radrennen sind sehr hart und sehr ermüdend. Nahezu jeder Profi und auch die meisten Hobbysportler haben am Ende des Jahres ein leichtes Übertrainingssyndrom. Eine Pause tut also gut und für die Gesundheit ist es förderlich, wenn man dem Körper eine z.B. 6 wöchige Regeneration gibt. Leider nimmt mir eine Pause von 4-6 Wochen fast die Chance, im nächsten Jahr stärker zu werden. Schon 2 Wochen Trainingspause reduzieren die Zahl der Mitochondrien dramatisch. Ich muss also beim Trainingsstart einen längeren Vorlauf einplanen, bevor ich wieder härter trainieren kann. Unserem Toursieger 2014 würde ich empfehlen, 2013 eine abgegrenzte Saison zu fahren und so die Ermüdung in Grenzen zu halten. Eine reine Saisonpause wäre dann hinfällig und unser Sportler könnte in einer Übergangsperiode von Mitte September bis Mitte Oktober aktiv mit Sport regenerieren.
    Bernhard Kohl hat im Winter Langlauf gemacht, um wieder den Sport aufzunehmen. Für das Herz-Kreislauf-System ist es egal, welchen Ausdauersport wir wählen. Aber wenn wir nachdenken, werden wir unschwer erkennen, dass dieses Training auf dem Rad einen höheren Nutzen hat. Bernhard Kohl hat also Langlauf gemacht. Als Trainer hätte ich grosse Probleme, dieses Training in einer Trainingsplanung zu qualifizieren und auch die Trainingsbelastung zu messen. In der Trainingsplanung bauen wir auf Reize und auf Regeneration. Die Reize müssen sukzessive gesteigert werden. Jeden Tag vier Stunden Langlauf zu machen ist bestenfalls nett. Spätestens in der dritten Woche fange ich an meine Zeit zu verschwenden, wenn ich meinen Reiz nicht deutlich anpasse.
    Leistungschart von Alejandro Valverde auf der neunten Etappe der diesjährigen Tour de France.

    Verbesserte Leistungsmessung und Analysesoftware

    Die Firma SRM hat für den Radsport einen Leistungsmesser bereits vor über 20 Jahren entwickelt. Mittlerweile gibt es diverse Softwareprogramme, die diese Leistungsdaten analysieren und den so genannten Trainingsload einer Einheit bewerten. Vereinfachend ausgedrückt werden Belastungen oberhalb der Schwelle deutlich stärker gewertet als Belastungen darunter. Mit dem Herzfrequenzmesser könnte Bernhard Kohl Belastungsspitzen durch kurze Hügel nicht wirklich erfassen, da die Herzfrequenz bis zu 3 Minuten Nachlauf hat. Wir fahren also einen Hügel hoch, sind sehr stark im anaeroben Bereich und unsere Herzfrequenz ist gerade mal von 120 auf 140 gestiegen. Unser Leistungsmesser zeigt aber, dass wir am Hügel 130 Prozent unserer Stundenleistung eingesetzt haben und diese Leistung korrespondiert eher mit einer Herzfrequenz von 180, die wir auch erreicht hätten, wenn der Hügel einen Kilometer länger gewesen wäre.
    Für unsere Trainingsplanung sind solche Differenzierungen sehr wichtig. Durch die Messung der tatsächlichen Leistungen können wir die Reize viel genauer setzen und so auch die Regeneration viel besser steuern. In einer perfekten Trainingsumgebung kennt nicht nur der Trainer, sondern auch sein Schützling die Wirkweisen des richtigen Trainings und so können beide von Tag zu Tag die Feinsteuerung für das Training vornehmen. Natürlich hat es früher schon Ruhepulsmessungen morgens gegeben und es wurden Blutparameter gemessen. Nur die dann folgende Trainingsleistung kann man erst mit der Software für Leistungsmesser richtig setzen und auswerten. Wer es genau wissen will, kann sogar während der Ausfahrt den aktuellen Trainingsload vom „Tacho“ ablesen.
    Wir können also einem Trainingstag eine Trainingsbelastung zuordnen und die Software kann uns dann anzeigen, wie sich der Trainingsload der letzten sieben Tage sich beispielsweise zum Trainingsload der letzten 42 Tage darstellt. Da man mittlerweile die Daten von vielen Leistungssportlern zum Vergleich hat, haben Trainer heute mehr Möglichkeiten, sich zu orientieren. Wir planen also unsere Trainingsbelastung für die Zeit von November bis Februar und steigern kontinuierlich den Trainingsload mit Einheiten, die für eine bestmögliche Basis für das weitere Training sorgen.
    Man könnte neben vielen ruhigen Kilometern in dieser Zeit zum Beispiel auch harte, hochintensive Reize im so genannten Hittraining machen. Dieses hochintensive Training in Intervallform ist ein neuer und auch alter Hut. Die Sportwissenschaft arbeitet aktuell an Längsschnitten, die uns helfen werden, das Hittraining auch in die Mehrjahresplanung einzubauen. Aber schon heute sehen die Trainingspläne in nahezu allen gängigen Magazinen für Breitensportler deutlich roter (=intensiver) aus als noch vor einigen Jahren. Wer bislang noch wenig in diesem Bereich trainiert hat, wird von einem Hit-Trainingsblock vermutlich stark profitieren.
    Softwareprogramme wie Golden Cheetah (opensource) verfügen über vielfältige Analysetools, zum Beispiel das Performancechart. Hier wird der aktuelle Trainingsload mit dem langfristigen Trainingsload verglichen. Wenn ich mein Pensum steigere, ist die aktuelle Belastung immer höher als die langfristige. Die Software erzeugt daraus die Trainingsstressbilanz, die dann in der Aufbauphase natürlich sehr stark negativ sein kann. Vor dem Wettkampf wird dann der aktuelle Trainingsload reduziert, um dann zum Wettkampf eine leicht positive Trainingsstressbilanz zu erzeugen. Der Sportler hat also ein Instrument, um die Trainingsbelastung zum Wettkampf genau auszusteuern; natürlich immer abgleichend mit eigenen Erfahrungswerten.
    Von der Firma Trainingpeaks gibt es eine Kaufsoftware von Coggan und Allen, die sich seit über 20 Jahren mit dem Thema Training mit Powermeter beschäftigen. Hunter Allen hat sich in diesen Tagen auch zu den Berechnungen von Vayer geäussert. Allen hält aufgrund der vielen ihm vorliegenden Charts von Sportlern die 6,5 W/kg für sauber möglich. Andy Coggan hat sich gestern in Facebook dahingehend geäussert, dass er Leistungen von mehr als 9 W/kg im VO2 Max Bereich für physiologisch möglich hält und leitet daraus ca. 6,6 W/ kg als mögliche Stundenleistung ab. Wenn man sich die Topfahrer anschaut, liegen diese oftmals am Ende einer Tour nur 1-5 Minuten auseinander. Diese Unterschiede lassen sich mit einem Kg Gewichtsunterschied erklären.

    Neue Trainingsmethoden sind besser als altes Doping

    Wenn Sie mich fragen, ob die Leistungen von Wiggins und Froome sauber sind, würde ich das bejahen. Zwischen 1990 und 2010 gab es hinsichtlich des Wissens über „richtiges“ Radsporttraining eine Wissensexplosion. Natürlich hat die Trainingsmethodik unter Doping gelitten. Durch Conconi, Ferrari und co. wurde in der Trainingsmethodik der Focus sehr stark auf die Schwellenleistung und deren Beeinflussbarkeit durch Epo und Blutdoping gesetzt. Das Training in diesen Jahren stand sicherlich hinter den Möglichkeiten und Ergebnissen des Dopings zurück. Als Hobbysportler gebührt mein Respekt und meine Achtung den Sportwissenschaftlern, die unseren Sport mit ihrer Suche und Forschung nach weiteren Bausteinen, die unsere Erkenntnisse mehren und bereichern.
    Der Radsport hat sich gewandelt. Teams wie Sky beschäftigen keine ehemaligen Doper. Die Sportler selber äussern sich heute eindeutig über Doper. Früher hätte man zum Doping der anderen geschwiegen und lediglich geleugnet selber zu dopen. Dieser Vorzeichenwechsel ist im Peleton erfolgt. Auch die aktuellen Leistungscharts z.B. von Valverde zeigen, dass die Sportler heute sauber sind. Der Radsport hat aus meiner Sicht an Faszination wieder gewonnen, weil die Leistungen nachvollziehbarer geworden sind.
    Schauen Sie auf das Chart von Valverde und teilen Sie meine Leidenschaft für diesen Sport. Valverde hat am ersten Berg seine Helfer vorgeschickt und dann vor der Kuppe mit vielleicht 6,5-6,8 Watt/kg attackiert. Froome konnte ihm zwar folgen, war dann aber ohne Helfer. Die restlichen Berge der Etappe waren dann davon geprägt, dass Froome umzingelt von Gegner ohne eigene Helfer selber entscheiden musste, welche Gegner er kontrolliert. Die Leistungen von Valverde sind absolut plausibel. Ich kenne genug talentierte Hobbysportler, die natürlich mit höherem Gewicht, ähnliche Leistungen erbringen.
    Freuen wir uns auf den heutigen Tag. Heute geht es zuerst über den Glandon, dann kommt der Col de Madeleine. Denken Sie heute mal an die Glycogenspeicher. Wenn auf den ersten beiden Bergen ein hohes Tempo gefahren wird, dann kann es durchaus sein, dass an den letzten Steigungen einige Topfavoriten sehr grosse Probleme bekommen. Sowohl Valverde als auch Contador sind beide überführte Doper. Beide sind aber auch herausragende Rennfahrer, die heute (sauber) den Radsport mit grosser Leidenschaft ausüben und aufgrund ihrer offensiven Fahrweise ihren Gegnern einen Wettkampf antragen, der an Faszination viel mehr zu bieten hat, als der Abgleich von Zahlen.
    Der Autor dieses Gastartikels ist Diplomkaufmann und seit vielen Jahren begeisterter Radsportler, der auch Rennen fährt. Er beschäftigt sich beruflich unter anderem mit der Entwicklung von Carbonteilen für Rennrad und Mountainbike made in Germany (Projekt sizezero). Am 01. August ist die offizielle Vorstellung.
    Der Autor schreibt hier unter dem Pseudonym Peter Sturm.

    Weitere Artikel zur Tour de France hier im Blog:

    Ist Chris Froome gedopt?

    Tour de France: Kann mit berechneten Leistungsdaten Doping nachgewiesen werden?