Mein Tag fing heute Morgen mit einer Pantoprazol und 800 mg Ibuprofen an. Um meinen Pegel zu halten, lege ich alle vier Stunden 400 mg Ibuprofen nach. Um zwei Stunden versetzt und ebenfalls im Vierstundenrhythmus gibts 20 Tropfen Novalgin.
Mit den Nachwehen der Silvesternacht hat das nichts zu tun. Pünktlich zum Beginn meiner Weihnachtspause meldete sich mein unterer Rücken, seit vier Tagen mit nie gekannter Vehemenz. Die linke Pobacke schmerzt, es zieht das Bein runter und der linke Fuß ist taub. Sitzen geht gar nicht. Liegen ist ok, der Arzt meinte ich solle mich bewegen, spazieren gehen, Radfahren. Können vor Schmerzen.
Es ist, als wolle mein Körper sicherstellen, dass ich in meinem Urlaub auch tatsächlich Pause mache. Ich ergebe mich.
Eine alternative, nicht weniger belegbare Hypothese über die Ursache habe ich noch: Mein Jahr wahr so schmerzhaft, ich kann das gar nicht alles rausheulen. Da sucht sich der Schmerz einen anderen Weg, bei mir eben das Rückenmark runter, an einem Lendenwirbel raus und dann den Ischiasnerv entlang.
Heute vor einem Jahr in Seoul.
Heute vor einem Jahr war ich mit Titien zum Familientreffen in Seoul. Direktflug von Frankfurt. Titiens Bruder ist mit einer Koreanerin verheiratet. Er hat seine Frau und seine Tochter, meine Nichte, zum letzten Mal vor einem Jahr gesehen. Er arbeitet in Jakarta, Frau und Tochter sind in Pandemiezeiten in Korea besser aufgehoben.
Zwei Freundinnen von mir haben in 2020 ebenfalls ihre Partner verloren. Ian, Martas Mann, ist an Knochenkrebs gestorben. Felipe, der Mann von Almoraima, ist vor vier Tagen ebenfalls an einem Hirntumor gestorben. Alle in unserem Alter.
An sie habe ich gestern Abend gedacht, und an die vielen Menschen, die Titien und mich im vergangenen Jahr unterstützt haben. Danke und frohes neues Jahr.
Vorgestern am späten Nachmittag hatte Titien im Liegen eine Atemfrequenz von 35 Zügen pro Minute. Laut Wikipedia sind 12-18 für Erwachsene normal. Im Sitzen wurde es besser. Sie wollte, dass ich bei ihr bleibe und nicht auf dem Balkon auf mein Rennrad steige, um für eine Stunde auf der Rolle zu strampeln.
Sie ahnte vielleicht schon was ich nicht wusste: Das war unser letzter gemeinsamer Nachmittag mit ihr bei vollem Bewusstsein.
Titien wollte schon früh ihre Medikamente für die Nacht: Das Antibiotikum im Eierbecher zermörsert für die entzündete Magensonde. Diazepam zur Krampflösung, Muskelentspannung und um besser schlafen zu können. Novalgin um Schmerzen gar nicht erst durchkommen zu lassen. Pregabalin zur Behandlung von Nervenschmerzen und zur Verbeugung eventueller epileptischer Muskelkontraktionen. Laxoberal um die Darmperistaltik zu unterstützen.
Alles zusammen in ein Glas, mit Wasser aufgießen, auf die 100 ml Spritze aufziehen und rein in die PEG (Perkutane endoskopische Gastrostomie, vulgo Magensonde).
Danach, auf ihren Wunsch, die Patientin vom Pflegebett ins Ehebett umlagern. Trotz höhenverstelltem Kopfteil fängt Titien in Rückenlage sofort an, nach Luft zu schnappen. Ich setze sie wieder auf; die Atmung normalisiert sich. Ich lasse sie langsam wieder aufs Kopfkissen gleiten – Schnappatmung setzt ein.
Ich richte sie wieder auf, und setze mich hinter sie, um sie zu stützen. Meine Schultern, mein Körper, meine Arme, Beine und Hände sind größer und breiter als ihre. Ich umarme sie vollständig und versuche, ihr so im Sitzen Geborgenheit zu bieten. Ihre Atmung normalisiert sich. Ich stelle mich auf eine lange Nacht ein.
Titien geht es nicht gut. Ich überzeuge sie, doch Morphium zu nehmen, um die Atmung zu entspannen. Dennoch, ich kann sie im weiteren Verlauf des Abends immer weniger zurück lehnen, bis Schnappatmung einsetzt. Ich mache mir sorgen, dass wir so die Nach nicht überstehen. Ich rufe um kurz nach Mitternacht den Notarzt.
Eine Ärztin und drei Pfleger stehen bei uns in der Wohnung. Meine Generalvollmacht, ihre Patientenverfügung, der Medikamentenplan und der jüngste Arztbrief werden gelesen und geprüft. Ich wiederhole auch mündlich, dass wir nicht möchten, dass sie ins Krankenhaus kommt und dort intubiert wird.
Titien wird mit einem tragbaren Gerät Puls und Sauerstoffsättigung gemessen und es gib noch einige Ratschläge zum richtigen Lagern der Patientin, bevor – etwas antiklimaktisch – das weitere Vorgehen verkündet wird: Bitte eine Schmelztablette Tavor 1 mg in die Backentasche und weiter sitzend lagern, inzwischen wieder im Pflegebett.
Ich gebe ihr später noch 10 mg Morphin und sitze bis morgens bei ihr und halte sie. Ihre Atmung bleibt flach, ihre Augen geschlossen. Irgendwann lege ich mich ins Bett und schlafe auch eine Stunde.
Ich wache um sieben wieder auf, ihre Atmung ist unverändert flach. Sie reagiert nicht auf Ansprache, Auch die Finger ihrer rechten Hand, die sie am Vortag noch zur Kommunikation genutzt hatte, bewegen sich nicht mehr.
Ich hebe ihren Kopf, ihre Augen öffnen sich. Ich frage, ob sie bequem sitzt. Sie blinzelt einmal müde. Das heißt ja und das ist die letzte Antwort, die ich von ihr bekomme.
Schläft sie? Ich sitze bei ihr und halte ihre warme Hand. Ich erzähle ihr von unserer gemeinsamen Zeit. Sie hört ja noch.
Nach der langen Nacht Geht dein Atem weiter Nur wenn du so liegst, Gerade, auf der Schneide
Deine Augen sind geschlossen Doch da ist noch ein Spalt Von unten kann ich sehen Dass du schon weiter schaust.
Wirst du dann geholt? Oder gehst du einfach leise? Dein Atem wird es weisen
Nach der Dämmerung, An Ende der geliehenen Zeit Bleibe ich hier alleine.
Titiens Symptome verändern sich weiter. Leider nicht zum Guten. Sie hat inzwischen fast keine Kraft mehr in ihren Muskeln. Ich vermute, ursächlich dafür ist sowohl der Progress ihres Hirntumors, als auch das hochdosierte Kortison, sowie die Tatsache, dass ihre Muskeln aus Bewegungsmangel abbauen.
Deshalb hängt ihr Kopf immer zur Seite wenn sie sitzt. Deshalb ist es inzwischen wirklich ein Kraftakt für mich, Titien in der Wohnung hin und her zu bewegen.
Um ihren Kopf zu stabilisieren habe ich ihr eines dieser hufeisenförmigen Reisekopfkissen gekauft, an denen man an Flughäfen immer jene Passagiere erkennt, die sonst nie fliegen. Aus Memoryschaum mit waschbarem Bezug. Titien liebt ihr Kissen, die Dinger sind also offenbar tatsächlich für irgendwas gut.
Ihre funktionslose Halsmuskulatur war auch der Grund, warum wir in den letzten Tagen nicht mehr mit dem Rollstuhl die Enten füttern waren. Es ist ihr sehr unangenehm, wenn ihr Kopf unkontrolliert nach rechts, links, vorne oder hinten ausschlägt, wenn ich sie mit dem Rollstuhl über eine Bürgertsteigkante schiebe, oder wenn wir auf nicht komplett plan geteerten Wegen fahren.
Ich habe ihr hierfür eine professionelle Halsmanschette gekauft, die ihren Kopf so fixiert, dass wir wieder guten Gewissens mit dem Rollstuhl raus können. Wir gewinnen Lebensqualität zurück und die Tiere in der Günther-Klotz-Anlage werden weiter gemästet. Das war gestern ihr glücklichster Moment.
Meine Muskelschwäche
Ich pflege Titien ja alleine, bin also den ganzen Tag bei ihr und sorge dafür, dass sie vom Bett ins Bad, in die Dusche, auf die Toilette, ins Wohnzimmer aufs Sofa und an den Esstisch kommt. Jeder Gang bedeutet, dass ich sie anheben muss (ihren Kopf dabei stützen), auf den durch ein Sitzkissen zum Rollstuhl umfunktionierten Toilettenstuhl umsetzen muss (Bremsen vorher feststellen), und sie dann damit durch die Wohnung fahre, um sie dann wieder anzuheben und umzusetzen.
Sie kann mich beim aufstehen und umsetzen aus eigener Kraft nicht mehr unterstützen. Titien ist schwer wie ein Sack Kartoffeln (oder ein Sack Reis?) und das hin und her hieven geht leider auch an mir nicht spurlos vorbei. Seit dem Wochenende habe ich einen veritablen Hexenschuss – obwohl ich immer darauf achte, sie lehrbuchhaft aus den Knien anzugeben und den Rücken gerade zu lassen.
Diesen Artikel schreibe ich zum Beispiel gerade am Laptop im Liegen auf meiner Yogamatte. So ist der Rücken halbwegs schmerzfrei. Aber ich will ja Titien auch beim Tabletten nehmen nicht alleine lassen, und so futtere ich morgens und mittags je eine halbe Ibuprofen 600, während sie ihr Kortison nimmt.
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